Sonntag, 21. Mai 2023

Pazifismus, quo vadis?

Diesen Artikel gibt's nur dank kptools, der mich dazu animiert hat, mal wieder einen Blogartikel zu schreiben. Auch über andere Themen als HiFi. Also geht's hier um ein Thema, das mich im Moment beschäftigt, und wahrscheinlich auch viele von Euch. Ich frage mich, was mit den deutschen Pazifisten los ist, und ob der Pazifismus tot ist, wie so mancher meint.

Auf jeden Fall scheint der Friedensbewegung in Deutschland die Fähigkeit und wohl auch der Wille zum Dialog abhanden gekommen zu sein. Ich erinnere mich an eine Dokusendung auf ARTE (https://youtu.be/zpKVmY9qPcM), wo z.B. eine Exil-Ukrainerin (Bella Khadartseva) eine Demo in Berlin beobachtet, und das Gespräch mit den Demonstranten sucht, aber letztlich keine sinnvollen Antworten bekommt. Von manchen Demonstranten wird sie offen angefeindet. Im Grunde ist das eine Parallele zur Situation in Russland selber, oder auch zwischen Russland und Ukraine, wo solche Kommunikationsprobleme quer durch die Familien gehen. Was ist da los? Warum kann man nicht mehr miteinander reden? Was ist überhaupt der Sinn einer Demonstration, wenn man gar nicht erst erklären will, warum man da demonstriert?

Beispiel der Demonstrant mit Baskenmütze, der ab 3:22 zu sehen ist. Er wirkt so als rezitierte er aus einem Drehbuch, das er vor sich her trägt. Auf Fragen ist er offenbar gar nicht vorbereitet, er gibt ein fixes Gedankenkonstrukt wieder, an dem er unbeirrbar festhält. Geradezu grotesk wirkt, wie er die ihn fragende Ukrainerin gleich auf die "andere Seite" verortet, und ihr ideologische Blindheit attestiert. Dabei ist er selbst die prototypische Verkörperung ideologischer Verbohrtheit!

Und direkt danach die graumelierte Frau, die der Ukrainerin im Vorbeigehen hinwirft, sie wolle ja nur Krieg. Sie redet mit einer jungen Frau, die wegen des Krieges ins Ausland geflohen ist, und meint, ihr sagen zu können, sie habe den Krieg gewollt! Sie meint, es besser zu wissen als die Betroffene selbst!

Was ist da los? Wie kann man für einen sprachlosen, herzlosen, verständnislosen, unsolidarischen "Frieden" sein, der den Kriegsopfern ins Gesicht sagt, sie seien am Krieg schuld? Wofür ist Pazifismus da, wenn nicht für die Opfer des Krieges? Wenn man Pazifist sein kann, indem man die Opfer zu Tätern erklärt, und ihren Widerstand zu Kriegstreiberei, was unterscheidet das dann noch von Kollaboration mit den Tätern?

Ich kenne natürlich die ganzen "Begründungen", die von der russischen Propaganda rauf und runter geleiert werden, und von solchen Friedensbewegten offenbar dankbar und unkritisch aufgenommen werden. NATO-Osterweiterung, Asow-Nazis, Kosovo, Afghanistan, Maidan-Putsch, usw. usf. Aber ich glaube nicht, daß das die Grundlage oder Ursache des Problems ist. Das hält alles keiner nüchternen Analyse stand. Dadurch wird nur eine Haltung abgepolstert, die schon vorher da war. Die russischen Propagandisten haben das sehr gut und sehr genau kapiert, und verstehen es zu nutzen. Aber die Friedensbewegten verstehen sich selbst nicht. Es ist eine kognitive Dissonanz, die sie da mit sich herum tragen, und auf diese Weise von ihrem Bewußtsein fern halten.

Ich denke, im Grunde kollidiert da ein unrealistisches Weltbild auf brutale Weise mit der Realität. Und statt sein Weltbild an die Realität anzupassen, versucht man, die Realität, oder jedenfalls die Wahrnehmung, die man von ihr hat, an das liebgewonnene Weltbild anzupassen. Alles was nicht passt, wird passend gemacht. Durch naive bis krude Verzerrungen, notfalls durch blankes Ignorieren von ganzen Faktenkomplexen. Je einfacher so ein Weltbild ist, desto leichter läßt es sich auf diese Art verteidigen. Leicht erkennbar wird das an den offensichtlichen Projektionen, bei denen man auf den Gegenüber das projiziert, was man selbst tut. Wie z.B. die "Baskenmütze", der der Ukrainerin ideologische Blindheit vorwirft, also genau das, was bei ihm selbst augenscheinlich im Überfluß gegeben ist.

Das hat von Euch bestimmt schon jeder erlebt: Man bekommt von Leuten Schwarz-Weiß-Denken vorgeworfen, die selbst zu keinerlei differenzierter Betrachtung in der Lage sind, und die ganze Situation nur durch die Brille des Konflikts zweier Großmächte sehen können. Uns wird Einseitigkeit vorgeworfen von Leuten, die kaum einseitiger sein könnten. Wir werden als von westlicher Propaganda verblendet dargestellt von Leuten, die praktisch 1:1 die russische Propaganda wiedergeben. Da halten sich Leute für Durchblicker, die bei Nachfrage zu keiner inhaltlichen Argumentation in der Lage sind, die über das Rezitieren der Propagandatexte hinaus geht. Sie geben ungerührt krasse innere Widersprüche von sich, die sie noch nicht einmal bemerken, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Es beschweren sich Leute darüber, daß man angeblich alles russische verteufele, und im nächsten Moment stauchen sie ungerührt einen ihnen völlig unbekannten ukrainischen Kriegsflüchtling zusammen, und setzen ihn praktisch mit einem Nazi gleich.

Da sind heftigste Projektionen am Werk. Die Leute arbeiten sich den Verstand wund im Versuch, ihre kognitive Dissonanz zu überkleistern. Sie demonstrieren nicht, um uns etwas einzureden, sondern um sich selbst etwas einzureden. Sie brauchen die Mitdemonstranten, um sich selbst in ihrer Haltung zu legitimieren. Sie erwarten von uns Außenstehenden sowieso kein Verständnis, wir sind für sie bereits vom "System" verseucht und verloren. Reden ist da überflüssig. Von der Demonstration erwarten sie nur Selbstvergewisserung.

Ist das noch eine Friedensbewegung oder schon eine Sekte?

Weder noch, würde ich sagen. Sie sind aber gefährdet, in irgendeine Politsekte reinzurutschen. Es ist ja eigentlich interessant, wie auf solchen "Friedensdemos" die politisch Rechten und die politisch Linken einträchtig nebeneinander her laufen können. Die sollten unter normalen Umständen in ihren Ansichten wenig miteinander zu tun haben! Das scheint aber keine Rolle zu spielen, denn im Grunde haben ja beide das gleiche Problem: Ihr Weltbild steht in krasssem Widerspruch zur Realität. Sie kapieren nicht was da vor sich geht. Gerade haben sie noch die USA für die Wurzel allen Übels erkannt gehabt (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), und ihre Hoffnungen auf Putin projiziert (auch aus unterschiedlichen Gründen), dann bläst Putin zum Angriff auf die Ukraine, also auf das "Bruderland"! Wie läßt sich das erklären?

Unter normalen Umständen läßt es sich nicht erklären, denn es ergibt so keinen Sinn. Man tritt ja nicht seinen Hund, weil man sich über seinen Nachbarn ärgert. Entweder man sieht die USA als den eigentlichen Gegner an, und dann macht der Angriff auf das Bruderland keinen Sinn - er ist sogar völlig idiotisch, denn man täte damit den USA den größten Gefallen, indem man sich mit dem Bruder zerfleischt und dabei nur verlieren kann. Oder man sieht die Ukraine selbst als den Gegner an, dann ist das Gerede mit dem Bruderland völlige Heuchelei, und es geht in Wirklichkeit um Dominanz, bzw. Imperialismus. Im einen Fall ist es idiotisch, im anderen verlogen.

Nüchterne Betrachter zählen 1 und 1 zusammen und erkennen darin natürlich russischen Imperialismus. Die damit einher gehende Propaganda in den russischen Medien, und die Äußerungen diverser prominenter Meinungsführer in Russland, lassen daran auch gar keinen Zweifel. Das Ziel ist ein großrussisches Imperium. Die Ukrainer sind keine Brüder, sondern Vasallen. Ihr Versuch, sich daraus zu befreien, ist Verrat und muß streng betraft werden. Es ist die gleiche Denke wie bei den Ehrenmorden: Die ukrainische Tochter hat sich mit den verkommenen Westlern eingelassen, und um die russische Familienehre wieder herzustellen, muß man sie jetzt züchtigen. Wenn sie's überlebt (was sie nicht verdient hat, die Schlampe), wird sie für's Leben gezeichnet sein, und ein für allemal von dieser Versuchung geheilt sein.

Diese für das russische Publikum gemeinte Erklärung taugt natürlich nicht für das westliche friedensbewegte Publikum, diese Leute treibt man damit nur zusätzlich in die kognitive Dissonanz. Dort ist man antifaschistisch und antiimperialistisch eingestellt, und hat sich bisher an der Leitlinie orientiert, daß der Imperialismus zum Kapitalismus gehört, und somit zur USA. Russland ist dagegen "immer schon" als Verbündeter im antifaschistischen Kampf angesehen worden. Daß sich jetzt Russland als imperialistische Macht zeigt, kann, darf und soll nicht sein, also braucht man da ein anderes Erzählmuster. Dieses Erzählmuster erklärt die Ukrainer zu Werkzeugen der USA in ihrem imperialistischen geopolitischen Projekt gegen Russland. Man merkt auch hier wieder die Projektion: Was man selbst tut wird dem anderen zum Vorwurf gemacht. Die einfachen Tricks sind immer noch die besten.

Aber das ist natürlich Unsinn. Russland war nie antiimperialistisch. Schon gar nicht die UdSSR, die war sogar ein offen imperialistisches Projekt, was man damals allerdings als Projekt der kommunistischen Weltrevolution, als weltweite Diktatur des Proletariats, umerklärt hatte. Die betroffenen Länder, also quasi der ehemalige "Ostblock", waren sich darüber immer im Klaren, auch wenn es dort natürlich die Systembefürworter und Systemprofiteure gab, die das mit der Weltrevolution ernst genommen hatten. Die Polen, Balten, Ungarn, Tschechen etc. wußten, was es heißt, sowjetisches "Brudervolk" zu sein, also wieviel da "brüderlich" war, und wieviel herrschaftlich. Notfalls haben die Sowjets mit Panzern nachgeholfen. Das war imperialistisch, und zwar zu zaristischen Zeiten schon genauso wie zu sowjetischen, und es ist unter Putin immer noch imperialistisch, zumal er sich ganz ausdrücklich auf die Zarenzeit beruft. Er sagt das seit langer Zeit alles selber, da braucht man nichts hinein zu interpretieren, schon gar nicht böswillig. Stattdessen versuchen Leute seit zwei Jahrzehnten, den Imperialismus aus Putin heraus zu interpretieren, und aus ihm einen friedliebenden Partner zu machen, mit dem man friedvoll und gefahrlos Geschäfte machen kann.

Es ist schon erstaunlich, wie man die immer brutalere und immer offener sichtbare Unterdrückung aller Opposition aus seinem inneren Bild wegretuschieren kann, die Putin geradezu perfektioniert hat! Wie man glauben kann, jemand der innenpolitisch so handelt, würde außenpolitisch friedlich sein? Zumal man auch außenpolitisch seine Handschrift deutlich sehen konnte. Gerade wer die US-Außenpolitik so kritisch begleitet, sollte doch nicht blind dafür sein, wenn sich Putin noch brutalerer und rücksichtsloserer Mittel bedient! Woher diese Einäugigkeit?

Ich sehe da einen tief sitzenden Antiamerikanismus. USA = Kapitalismus = Imperialismus ist eine jahrzehntealte Formel, die in vielen Leuten immer noch drin zu stecken scheint. Es ist eine Sichtweise, die sich aus dem Kalten Krieg herüber gerettet hat. Deswegen ist es auch kein Wunder, daß man auf solchen Friedensdemos vorwiegend Leute sieht, deren politische Formation in die Zeit des kalten Krieges zurück reicht. Das Ende des kalten Krieges hat für sie einen Lebenstraum bedeutet, der (leider) zur Lebenslüge geworden ist. Ich kann das zum Teil nachvollziehen, weil ich ungefähr zur gleichen Altersstufe gehöre. Ich habe auch gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert, noch kaum erwachsen. Ich erinnere mich noch an die Stimmung. Ich war aber auch kein Pazifist. Mir war auch damals schon klar, daß es Situationen gibt, in denen man zur Waffe greifen muß. Dazu hat nicht wenig die Beschäftigung mit der Nazizeit beigetragen, in der Schule und zu Hause. Ich hatte daher nichts gegen das Prinzip der Abschreckung, ich hatte nur etwas gegen das Prinzip der gegenseitigen garantierten Vernichtung. Das erschien mir monströs und irrsinnig, dagegen habe ich demonstriert.

Als ich bald danach an der Universität war, lernte ich die diversen K-Gruppen kennen, und deren Ideologie. Dort war genau diese Haltung besonders deutlich: USA = Kapitalismus = Imperialismus = Krieg, und im Gegensatz dazu UdSSR = Kommunismus = Solidarität = Friede. Das war zwar auch damals nicht recht glaubwürdig, aber angesichts der Großmachtkonfrontation schien es wenigstens nicht derart absurd wie heute. Der Zusammenbruch der UdSSR hat dann der Glaubwürdigkeit dieser Gruppierungen, und ihrer finanziellen Ausstattung, einen harten Schlag versetzt. Die Aussicht auf einen echten Frieden mit Russland war aber zumindest kurzzeitig, im Gefolge von Gorbatschow, ein sehr verlockendes Ziel, und auch ich war eher genervt von der US-Politik, die das meiner Meinung nach zu sehr behindert hat, und der europäischen Unfähigkeit, dem eine gemeinsame Sicherheitspolitik entgegen zu setzen. Dieser Teil von mir kann durchaus nachvollziehen, was die heutigen Friedensbewegten antreibt.

Sie sind aber leider in der Zeit, und in ihrem Wunschdenken, stehen geblieben. Russland hat sich nach Gorbatschow in die völlig falsche Richtung entwickelt, und das ist nicht der Fehler der USA. Es war naiv, zu glauben, Russland würde sich einfach so zu einem friedlichen und demokratischen Land entwickeln, nachdem gerade sein Imperium zerfallen war. Ich habe das gemerkt, als schon vor Putin diverse Krisenherde um Russland herum aufgeflammt sind, die im Grunde gezeigt haben, daß Russland seine Ambitionen nicht aufgegeben hat. Vor allem aber wurde mir klar, daß Russland selber ein Vielvölkerstaat, ein Imperium ist, das ebenfalls zerfallen kann, und es vielleicht auch verdient hätte, zu zerfallen. Im Grunde aber war ich anfangs verständnisvoll einer autoritären Regierung gegenüber, weil ich dachte das sei nötig, um den Laden nach dem Chaos des UdSSR-Zerfalls zu stabilisieren und zusammen zu halten. Ich habe mich sogar so weit beeindrucken lassen, daß ich auch den Krieg gegen die Tschetschenen unter Putin akzeptiert habe, denn irgendwie habe ich ihm abgekauft, das das ein Krieg gegen den Terror ist. Ein Fehler, denn wie sich heraus gestellt hat, ist er der Terrorist gewesen.

Bei dem Friedensbewegten von heute habe ich den Eindruck, daß die Entwicklung Russlands unter Putin im Grunde völlig an ihnen vorbei gegangen ist, und sie noch immer an einem romantischen Russlandbild von Anfang der 90er festhalten, wo in Russland Revolution und Aufbruch war, und alles möglich schien. Und die es fertig bringen, den Westen dafür verantwortlich zu machen, daß es danach nicht so lief wie erhofft. Mit anderen Worten, Putin damit zu entschuldigen, daß er angesichts der Feindseligkeit des Westens ja gar nicht anders konnte.

Das ist wiederum hanebüchener Unsinn. Es gibt keine denkbaren Umstände, die jemand wie Putin dazu zwingen würden, ein staatsmafiöses System zu errichten, in dem er als Alleinherrscher unanfechtbar an der Spitze steht. Putin hat das nicht des Westens wegen gemacht, sondern weil er die Macht wollte. Er ist ein Geheimdienstler, und ein Mafioso im Geiste. Das war er von Anfang an, und der Westen hätte daran so oder so nichts geändert. Man hat es ihm nur zu leicht gemacht, indem man ihn systematisch und über lange Zeit verkannte.

Eine friedfertige europäische Sicherheitsordnung mit Einschluß von Russland, in der auch die Nachbarländer Russlands ihre Freiheit und Sicherheit gehabt hätten, war mit Putin nie realistisch. Die sogenannten Sicherheitsinteressen Russlands wären immer auf Kosten der Sicherheit der Nachbarländer gegangen. Putin hätte immer dafür gesorgt, daß Russlands Sicherheit dadurch gewährleistet wird, daß nach Möglichkeit die Kette von Nachbarländern von Georgien bis Finnland demilitarisiert und somit wehrlos sind. Es ist wiederum erstaunlich, daß so etwas von den Friedensbewegten wie selbstverständlich akzeptiert wird, denn wenn immer ein kleineres und ein größeres Land sich als Gegner gegenüber stehen, dann ist die Sicherheit des kleineren Landes das größere Problem, um das man sich vordringlich kümmern muß.

Die Idee, daß ein kleineres Land seine Sicherheitsinteressen denen des größeren Landes opfern müßte, indem es neutral und demilitarisiert bleibt, ist recht eigentlich absurd. Man kann es nur durch ein Großmachtdenken erklären, in dem die Interessen kleinerer Länder schlicht nicht vorkommen, und ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als sich der einen oder anderen Seite als Vasall zur Verfügung zu stellen. Meiner Meinung nach in unserer heutigen Zeit ein Unding, ein kapitales ethisch-politisches Versagen! Daß es von Pazifisten ernsthaft vertreten wird, ist meiner Meinung nach ein geistiger Offenbarungseid, an dem deutlich wird, daß den Pazifisten das Verständnis dafür abhanden gekommen ist, worum es bei Frieden eigentlich geht, nämlich nicht der bloßen Abwesenheit von Tod.

Das Verständnis der NATO-Osterweiterung als aggressivem Akt der US-geführten NATO gegen Russland ist deswegen auch grundfalsch. Nicht deswegen weil der Westen Gorbatschow irgend etwas versprochen hätte. Das ist ein lachhaftes Mißverständnis dessen wie internationale Politik, insbesondere Verträge, funktionieren. Nur in einer absoluten Diktatur kann ein Handschlag des Diktators als rechtsverbindliches Versprechen gelten. In parlamentarisch organisierten Ländern ist für solche bindenden Versprechen mit gutem Grund die Zustimmung des Parlaments erforderlich. Wer also meint, die NATO wäre daran gebunden gewesen, offenbart damit nur eine totale Ahnungslosigkeit über die Regeln der Demokratie und der Diplomatie.

Nein, grundfalsch ist dieses Verständnis insbesondere deshalb, weil die neuen NATO-Mitglieder sich quasi in die NATO gerettet haben! Sie mußten ja nicht erobert werden, sondern haben sich um die Aufnahme aktiv bemüht, und mußten oft jahrelang darauf warten! So sieht kein aggressiver Akt aus! Es ist in erster Linie das außenpolitische Versagen Russlands, in seinen Nachbarländern ausreichend für Vertrauen zu sorgen und zu werben, um ihnen auch ohne NATO-Beitritt genügend Sicherheit zu geben. Dazu hätte man aber in Russland auf alle imperialistischen Allüren und die entsprechende Rhetorik konsequent verzichten müssen. Die sind aber im Lauf der Zeit immer deutlicher geworden. Den ehemaligen Ostblockländern war nur allzu klar was das bedeutet, und sie haben das auch immer wieder ausgesprochen, bloß wollten wir in Deutschland davon nichts wissen.

Ich war anfangs auch skeptisch, ob durch die Aufnahme nicht Russland unnötig provoziert würde, aber mir ist irgendwann um 2004 herum, als die Balten aufgenommen wurden, klar geworden, daß man sie nicht gut hätte zurückweisen können. Eine Verweigerung der Aufnahme hätte nämlich signalisiert, daß die NATO die baltischen Länder zum Einflußgebiet Russlands rechnet, und deswegen die NATO-Mitgliedschaft verweigert, also quasi aus Respekt vor den Großmachtambitionen Russlands. Das wäre ein katastrophales Signal gewesen. Man hätte so oder so den baltischen Ländern Sicherheitsgarantien geben müssen, um sie nicht im Regen stehen zu lassen, und dann wäre die Frage was noch der Unterschied zur NATO-Mitgliedschaft gewesen wäre, bei der es ja genau um diese Sicherheit geht.

Es kommt noch hinzu, daß man den Sicherheitsinteressen Russlands durchaus entgegen gekommen war, indem die NATO darauf verzichtet hat, und zwar bis heute, auf dem Territorium der neuen Mitglieder Atomwaffen zu stationieren. Bis heute liegen die NATO-Atomwaffen in Europa in den "alten" NATO-Ländern. Vom deutschen Büchel mit seinen vielleicht 20 Atomwaffen ist es genauso weit nach Berlin, wie von Kaliningrad, wo Russland angeblich inzwischen Atomraketen stationiert hat. Dabei sind so weit ich weiß die Atomwaffen in Büchel gar nicht auf Raketen montiert, sondern müssen ggf. per Bomber zum Ziel geflogen werden, was natürlich deutlich länger dauern würde. Zudem ist die NATO kein einzelnes Land, sondern ein Bündnis aus unabhängigen Ländern. Mir ist völlig schleierhaft wie sich die "Putinversteher" vorstellen, daß ein Angriffskrieg der NATO gegen Russland aussehen würde. Meinen sie, die USA könnten die Devise ausgeben, "morgen greifen wir Russland an", und Lettland, Estland, Litauen und Polen rufen "auja, wir sind dabei!" oder "zu Befehl, Kommandant!"? Ist denn nicht klar, daß ein solches Szenario eine völlig bescheuerte Vorstellung ist?

Und noch eines darf man nicht vergessen: Die NATO hat seit den 90er-Jahren Rüstungsabbau betrieben, ganz besonders Deutschland! Das ging deutlich über das hinaus, was vereinbart war. Am Ende, wie wir wissen, stand das deutsche Militär ziemlich blank da, mit nicht funktionierender Ausrüstung, kaum Munition, regelrecht herunter gewirtschaftet. Soll so etwas ein Zeichen sein, daß man Russland bedroht? Auch daß es die USA auf Russland abgesehen hätten ist ein Märchen. Für die USA spielt seit längerem in Fernost die Musik. Russland ist nur lästig, weil es vom eigentlichen Problem ablenkt. Eine Ex-Großmacht, die mit ihren Atomwaffen herumfuchtelt, um noch ernst genommen zu werden. Eine Volkswirtschaft der Größe von Italien mit einem überdimensionierten Militär voller Waffenschrott. Ein krasses Mißverhältnis zwischen Eigen- und Außenwahrnehmung. Nein, die gefühlte Bedrohung seitens der NATO ist für Russland nur eine gern gepflegte Illusion zur Aufpolsterung der eigenen weltpolitischen Bedeutung, bzw. des entsprechenden nationalen Egos.

Den US-Amerikanern ist seit vielen Jahren erkennbar lästig, das sie sich immer noch derart in Europa sicherheitspolitisch engagieren müssen. Es ist absurd, zu glauben wir würden hier quasi von den Amerikanern in Besatzung gehalten, damit sie bei uns alles bestimmen können. Im Gegenteil, die USA wären froh, wenn sich die Europäer mal um ihre eigenen Sicherheitsinteressen kümmern würden, so daß sich die USA mit dem beschäftigen können was aus ihrer Sicht viel wichtiger ist: Der pazifische Raum, insbesondere China und Umgebung. Das sieht man sehr deutlich gerade beim aktuellen Ukrainekrieg, wenn sich die USA immer wieder zieren, eine bestimmte Art von Militärhilfe zu leisten, und den Europäern den Vortritt lassen wollen. So war es z.B. bei den Leopard-Panzern. Die USA haben sehr deutlich gemacht, daß sie befürworten würden, wenn Deutschland und andere Länder hier die Initiative ergreifen würden. Es war der deutsche Scholz, der unbedingt die USA mit dabei haben wollte. Es ist also nicht die USA, die hier den Europäern diktieren würde, was zu machen ist, sondern es sind die Europäer, die sich nach wie vor unter den Rockschößen der USA verstecken, und nichts ohne die USA unternehmen wollen.

Europäische Sicherheitspolitik war daher bisher weitgehend leeres Gelaber. Wenn's darauf ankommt will man doch wieder die USA vorne dran haben. Es ist doch immer noch bequemer, wenn Mama USA die sicherheitspolitischen Socken wäscht, auch wenn Sohnemann Europa inzwischen schon über 70 ist. Im Ukrainekrieg war das zum Vorteil der Ukraine, denn wenn es auf eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik angekommen wäre, dann gäbe es heute keine Ukraine mehr. Es heißt nicht, USA-Freund oder gar Speichellecker zu sein, wenn man das heute anerkennt, was sie für die Ukraine getan haben. Das bedeutet nicht, daß sie weltpolitisch prinzipiell "die Guten" wären. Ich habe viel Kritik an den USA, aber ich bin differenziert genug in meinem Urteil, daß ich auch anerkennen kann, wenn sie etwas richtig machen.

Es ist daher für mich frappierend, wie man es bei den Pazifisten genau anders herum sehen kann. Es ist dieselbe Realität, aber eine völlig andere Wahrnehmung. Eine stark eingeschränkte Wahrnehmung, wie ich meine. Eine Wahrnehmung, die im kalten Krieg stecken geblieben ist, die von Antiamerikanismus getränkt ist, die sich einem romantischen Russlandbild hingibt, das noch nie viel mit der Realität zu tun hatte, und heute erste recht nicht hat, und die zu kognitiven Dissonanzen führt, die die Pazifisten dazu bringt, die Opfer zu Tätern zu machen, um ihre Wahrnehmung und ihre Lebenslüge zu retten. Dabei fallen sie der russischen Propaganda, die auf diesem Klavier hervorragend zu spielen weiß, reihenweise zum Opfer. Sie verkennen dabei alles: Sie verkennen Russland, Putin, die Ukraine, die USA, die NATO, die weltpolitische Situation im Ganzen, und auch sich selber. Tragisch.

Besonders erschüttert hat mich kürzlich die Wortmeldung von Eugen Drewermann anläßlich der Verleihung des Karlspreises an Volodymyr Selenskyj. Das Video dazu gibt's hier: https://youtu.be/lXehrdPQzA4

Gleich vorneweg: Ich kaufe Drewermann seine Erschütterung ab. Ich glaube auch nicht, daß er russlandfreundlich ist, und letztlich Putin's fünfte Kolonne in Deutschland spielen will. Aber er ich bin mindestens genauso erschüttert über das Versagen seiner Urteilsfähigkeit, das er in diesem Video dokumentiert. Er ist erschüttert über das fortgesetzte Morden im Ukrainekrieg, und bringt es fertig, den Verantwortlichen dafür fast vollständig auszusparen, und den Vertreter der Opfer für die Tode verantwortlich zu machen. Er appelliert an Selenskyj, aber wo ist sein Appell an Putin?

Er tut so als würde Selenskyj seine Bürger gegen ihren Willen in den Tod schicken. Als würden ihn die Verluste in der eigenen Bevölkerung nicht interessieren! Als würde es Drewermann brauchen, um ihn daran zu erinnern, daß die eigenen Leute sterben! Drewermann, der im sicheren Deutschland sitzt! Weiß er, daß Selenskyj die allermeiste Zeit in Kiew geblieben ist, besonders am Anfang, als er es abgelehnt hat, von den USA evakuiert zu werden, wohl wissend, daß ihn das das Leben kosten kann? Daß ihn die Invasoren wahrscheinlich umbringen würden, wenn es die ukrainische Armee nicht schafft, die russischen Truppen vor Kiew aufzuhalten? Mit welchem Recht maßt sich Drewermann an, aus der warmen Stube heraus die ukrainischen Bürger ihrem frei gewählten Präsidenten gegenüber vertreten zu können?

Es gibt einen einfachen Grund, warum eine Kriegspartei über die eigenen Toten schweigt: Man will dem Gegner keinen Anhaltspunkt für seine Propaganda bieten. Es hat nichts damit zu tun, die eigenen Toten zu ignorieren. Ob ein Staatsoberhaupt sich über die Verluste im eigenen Volk bewußt ist oder nicht, das erkennt man nicht an veröffentlichten Zahlen, sondern an seinem Verhalten. Ich lade Drewermann und alle anderen ein, sich das Verhalten von Selenskyj und Putin in dieser Hinsicht einmal genauer anzusehen. Wer besucht die Gräber? Wer besucht die Soldaten an der Front? Wer spricht mit den Hinterbliebenen? Wer redet wie über das Thema?

Drewermann will den Frieden. Selenskyj auch. Aber offensichtlich meinen sie nicht das gleiche damit. Drewermann meint offenbar das Ende des Tötens damit. Selenskyj das Ende der Ungerechtigkeit und der Sklaverei. Wenn den Ukrainern die Sklaverei egal gewesen wäre, und sie nur das Töten nicht gewollt hätten, dann hätten sie der Invasion von vorn herein keinen Widerstand geleistet. Dann wäre die Invasion binnen Tagen erfolgreich gewesen, und die Ukraine gäbe es heute nicht mehr, jedenfalls nicht als unabhängigen Staat. Aus den Ukrainern, die nicht geflohen sind, hätte Putin Russen gemacht, in ungefähr der gleichen Weise wie Xi aus den Uiguren Chinesen macht. Mit Gewalt. Es kann daran kaum einen Zweifel geben, denn das wurde alles vorher klar ausgesprochen.

Aber das interessiert Drewermann nicht. Er weiß es besser. Er weiß besser, was die Ukrainer wollen, er weiß besser, was aus wirtschaftlicher Sicht geboten wäre (billiges russisches Gas, zumindest für uns Deutsche), er weiß besser was für die Umwelt gut ist (die Kapitulation der Ukrainer). Die Ukrainer sollen den Planeten retten, indem sie sich selbst opfern. Wenn sie es nicht freiwillig tun, müssen wir sie eben zwingen.

Krieg ist Wahnsinn, da hat Drewermann recht. Aber es ist auch Wahnsinn, darüber das Gefühl für Gerechtigkeit zu verlieren. Krieg kann nur mit Gerechtigkeit überwunden werden, denn ohne Gerechtigkeit wird er weiter wuchern. Die Ukrainer kämpfen um ihre Existenz, Russland kämpft um sein Imperium. Das ist ein Unterschied der kaum größer sein könnte. Drewermann leugnet das. Er behauptet wir würden unsere eigenen Interessen in Putin hinein projizieren. Wir würden zu Unrecht Putin zum Imperialisten erklären, indem wir unseren Imperialismus in ihn hinein projizieren, ihn dämonisieren. Die wirklichen Imperialisten seien die Amerikaner, die Sieger des kalten Krieges! Was für ein unfaßbares Fehlurteil! Putin hat aus seiner eigenen imperialistischen Einstellung keinen Hehl gemacht, seit Jahren nicht! In seiner Umgebung tönt es sogar noch schriller. Man braucht da nichts zu projizieren, man muß bloß hinhören! Aber das will Drewermann nicht, seine Meinung steht schon fest, anscheinend schon seit 1991.

Es geht so weit, daß er Boris Johnson Worte in den Mund legt, die er nicht von der Quelle haben kann, sondern die nur seiner eigenen Phantasie enstsprungen sein können: "Damals kam Boris Johnson im Auftrag der Amerikaner, um zu sagen: Mach den Krieg, wir unterstützen Dich. Wir wollen ihn haben! Wir müssen Russland bekämpfen!" Was für eine ungeheuerliche Verleumdung! Johnson, wir erinnern uns, hatte kurz zuvor den Ort des Massakers von Bucha besucht, kurz nachdem Selenskyj selbst den Ort besucht hatte. Als sich die beiden kurz danach in Kiew getroffen haben, kamen die Verhandlungen mit Russland zum Stillstand. Von mehreren Seiten wurden die Massaker von Bucha für diesen Stillstand verantwortlich gemacht, aber Drewermann weiß von irgendwoher, daß Johnson mit einem amerikanischen Auftrag dorthin fuhr, und daß er es war, und nicht Butscha, der den Stillstand herbei geführt hat, und zwar nicht wegen des Butscha Massakers, sondern weil die USA an einem Frieden kein Interesse hatten. Hat er das in einer göttlichen Erleuchtung erfahren? Oder woher sonst nimmt er die Gewißheit, daß es so war wie er es im Video behauptet?

Ich würde sagen, da spielt die Realität bei Drewermann keine Rolle mehr, er hat seine Überzeugung aus seinem Ressentiment geschöpft. Und er ist, was die Erklärungen angeht, der russischen Propaganda zum Opfer gefallen.

Falls Drewermann überhaupt noch erreichbar sein sollte, würde ich ihm Folgendes auf den Weg geben wollen:

Frieden ist nicht die Abwesenheit von Tod. Frieden ist die Folge von Gerechtigkeit. Ein Frieden, der den Opfern einer Aggression auferlegt, sich dem Aggressor zu fügen, im Dienste der Vermeidung von Blutvergießen, ist ein Diktatfrieden, der nicht funktionieren kann. Die Opfer werden sich dem nicht unterwerfen. Sie werden weiterhin für Ihr Recht kämpfen. Wer also Frieden will, kämpfe für Gerechtigkeit, und nicht gegen die sowieso schon Benachteiligten.

Der Krieg wurde den Ukrainern aufgezwungen. Nicht von ihrer Regierung, sondern von Putin's Russland. Das war schon 2014 der Fall, und in 2022 folgte der zweite Streich. Auch die Ostukrainer wollten 2014 mehrheitlich keinen Krieg und keine Sezession. Igor Girkin, der russische Geheimdienstler, der die verdeckten militärischen Operationen Russlands in der Ostukraine geleitet hat, beschwerte sich einst darüber, daß er in der Ostukraine keine 1000 Freiwilligen für seine Aufständischentruppe rekrutieren konnte. Der Krieg im Donbass ist Russland's Werk. Nicht das Werk der ukrainischen Regierung in Kiew, und nicht das Werk unterdrückter Russen im Donbass.

Wer den Ukrainern in dieser Situation helfen will, der sollte sie nicht versuchen, zu bevormunden. Ganz besonders sollte er nicht so tun, als würde er ihre Interessen vertreten. Die Ukrainer sind selbständige, erwachsene Leute, die über ihre Angelegenheiten selbst entscheiden können. Wenn Drewermann meint, es besser zu wissen, sollte er wenigstens darauf verzichten, so zu tun, als spräche er für die ukrainischen Bürger. Denn das tut er nicht. Auch nicht mit den besten Absichten. Er sollte sich ehrlich machen, für wen er da mit welchem Mandat spricht. Wahrscheinlich ist es nur er selbst.

Wenn Drewermann die Ukrainer davon überzeugen will, daß sie die Waffen niederlegen sollen, und gegen die russische Invasion nicht länger bewaffneten Widerstand leisten sollen, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, dann muß er ihnen eine annehmbare Alternative anbieten. Er muß ihnen zeigen, wie sie unter diesen Umständen ihre Freiheit und ihre Existenz behalten können, denn das ist es wofür sie gerade kämpfen. Wenn er versucht, ihnen weis zu machen, Putin sei im Grunde gutwillig, dann sollte er nicht überrascht sein, wenn sie ihn für einen Idioten halten.

Und wenn er gegen den ausdrücklichen Willen der Ukrainer von der deutschen Bundesregierung verlangt, sie solle die Militärhilfe an die Ukraine einstellen, dann sollte er darauf verzichten, sich Christ zu nennen. Denn ein Christ opfert sich vielleicht selbst anstelle des Opfers einer Aggression, aber er würde nicht aus einer ungefährdeten Position heraus einem Opfer empfehlen, sich dem Aggressor hinzugeben.

Es ist wohlfeil, davon zu reden, daß die Opfer eines Krieges immer die Leute an der Front sind, auf allen Seiten. Das wissen wir alle, es ist eine Binsenweisheit. Das kann man ohne Verständnis für die konkrete Situation immer sagen. Die Verantwortung und die Gerechtigkeit gebietet es, daß man sich genauer ansieht, wer hier angreift und wer verteidigt, und mit welchen Mitteln. Das kann im Einzelfall schwierig sein, beim Ukrainekrieg ist es aber außerordentlich einfach. Egal welche Kriege die USA anderswo ausgefochten hat. Die Ukrainer können nichts für die zahlreichen Fehler der USA, und sie können auch nichts für den beklagenswerten Zustand der UNO. In der Ukraine kämpft Russland gegen die Ukraine, und man kann sich ziemlich genau ansehen, wie sie es tun.

Es ist die russische Armee, die hier auf fremdem Territorium steht. Das ist das Unrecht, das es zu korrigieren gilt. Dafür muß sich die russische Armee zurück ziehen, und nicht die ukrainische Armee aufhören, sich zu verteidigen. Erst wenn die Soldaten wieder auf ihr eigenes Territorium zurück gekehrt sind, kann man über die Linderung der Verletzungen und Konflikte innerhalb der Ukraine reden. Das wird schwer sein, aber wenn man die Gerechtigkeit allem zugrunde legt, kann es funktionieren.

Drewermann sollte weniger auf den Tisch hauen, und mehr nachdenken, wen oder was er warum wem gegenüber vertreten will. Und welche Rolle dabei die Ukrainer selbst spielen. Ungeschminkte und selbstkritische Aufrichtigkeit wäre hier sehr von Vorteil.

Als Beispiel für Pazifismus widert mich das jedenfalls an. Wenn Pazifismus darin bestehen soll, dem Opfer einer Aggression eine Standpauke zu halten und ihn aufzufordern, den Widerstand einzustellen, oder die Hilfeleistung an ihn, dann hat er sich in meinen Augen fundamental diskreditiert, denn es scheint dem Pazifismus nicht mehr um Gerechtigkeit zu gehen.


Das war jetzt fast schon eine Predigt, und das auch noch von einem Atheisten wie mir. Ich hoffe trotzdem, Ihr habt es mit Gewinn gelesen.

Donnerstag, 5. Dezember 2019

Symmetrische Kopfhörer

Irgendwie hatte ich heute mal wieder Lust, einen Blogartikel zu schreiben. Immerhin bleibt so nach länglicher Pause das Jahr 2019 nicht gänzlich leer.

Das Thema ist allerdings nicht gerade taufrisch, im Gegenteil scheint es ungefähr 20 Jahre alt zu sein, denn HeadRoom Audio rühmt sich, vor 20 Jahren den Trend mit ihrem Verstärker BlockHead ausgelöst zu haben. Die Firma scheint verblichen zu sein, und der Verstärker war erlesen häßlich. Zudem noch unpraktisch, denn man mußte den Kopfhörer mittels zweier 3-pol XLR Stecker anschließen. Kein Wunder also daß der Tester von Stereophile damals begeistert war. War bei einem Preis von fast $4000 auch zu erwarten.

Inzwischen haben sich diverse Firmen dieses Themas angenommen, und bieten Geräte und Kopfhörer für symmetrischen Anschluß an. Immerhin hat man sich inzwischen auf einen einheitlichen Stecker geeinigt, nämlich einen 4-pol XLR, so daß man wenigstens nicht mit zwei Steckern pro Kopfhörer rummachen muß. In jüngster Zeit ist schließlich mit dem "Pentaconn" ein 5-pol Klinkenstecker aus Japan für den gleichen Zweck auf uns gekommen, der wegen seines anderen Durchmessers von 4,4 mm nicht mit den bekannten Klinkensteckern kompatibel ist.

Ich finde es geradezu ironisch, daß man sich ausgerechnet bei Kopfhörern um Symmetrierung bemüht, wo das am wenigsten bringt. Ebenfalls ironisch ist, daß der in Deutschland normierte und weithin verwendete Kopfhörerstecker der 70-er Jahre, der sog. "Würfelstecker", schon symmetrisch war. Es hätte überhaupt keinen Grund gegeben, sich nach einem neuen Stecker umzusehen, man hätte einfach den alten Würfelstecker wieder herauskramen können. Schließlich, noch eine Ironie, ist ein Kopfhörer, genauer gesagt der Schallwandler an jedem Ohr, eigentlich ohnehin grundsätzlich symmetrisch.

Der einzige Unterschied zum heutigen System auf Klinkenstecker-Basis ist daher, ob man für einen der zwei Anschlüsse jedes Schallwandlers einen gemeinsamen Kontakt im Stecker nimmt, oder zwei getrennte. Natürlicherweise hat nämlich ein Kopfhörer 4 Anschlüsse, für jede Seite zwei, denn Strom fließt bekanntlich im Kreis, weswegen man von Stromkreis spricht, und Stromkreise hat man bei Stereo nun einmal zwei. Damit der Strom hin und auch wieder zurück fließen kann, braucht es für jeden Stromkreis eben zwei Anschlüsse. Macht zusammen vier.

Ein Schallwandler ist als Bauteil mit 2 Anschlüssen für sich genommen automatisch symmetrisch, genauso wie ein Lautsprecher, ein Tonabnehmer oder ein dynamisches Mikrofon. Wenn man die Anschlüsse vertauscht ändert sich nichts außer die "Phase", also die Polarität des Signals. Im Prinzip kann man daher jeden Kopfhörer symmetrisch anschließen, es ist bloß eine Frage der Verdrahtung.

Die konventionelle Verdrahtung nimmt einen der beiden Anschlüsse jeder Seite zu einem gemeinsamen Anschluß zusammen, um einen Steckerkontakt zu sparen. Der gemeinsame Kontakt wird meist als "Masse" bezeichnet, es gibt aber keinen zwingenden Grund warum er mit der Masse irgendeines Gerätes verbunden sein müßte, denn der Kopfhörer ist "massefrei". Dieses Zusammenlegen zweier Kontakte ist der einzige Grund warum man davon spricht, der Kopfhörer sei "unsymmetrisch".

Das bringt mich zur Kernfrage: Welches Problem wird mit symmetrischen Kopfhörern überhaupt gelöst? Was ist an symmetrischen Anschlüssen besser als an den bekannten Klinkensteckern?

Die Befürworter verweisen oft auf die bessere Kanaltrennung, bzw. das geringere Übersprechen. Das ist in zweierlei Hinsicht irreführend, obwohl das Argument einen wahren Kern hat.

Der wahre Kern besteht in einem Übersprechmechanismus, der "Kopplung durch eine gemeinsame Impedanz" heißt. Wenn zwei Stromkreise eine gemeinsame Impedanz haben, also eine Strecke gemeinsamen Weges für die Ströme in beiden Stromkreisen, dann führt das dazu, daß die Signale beider Stromkreise sich gegenseitig stören. Wie groß die Störung ist, hängt von den Einzelheiten ab, vor allem von der Größe der gemeinsamen Impedanz im Vergleich zur Impedanz des ganzen Stromkreises.

Ich rede von Impedanz anstelle von Widerstand, weil wir es hier mit Wechselströmen zu tun haben, und da ist der korrekte Begriff eben "Impedanz". Für den Hausgebrauch kann man es aber der Einfachheit halber auch mit dem Widerstand gleichsetzen. Für beide gilt jedenfalls das Ohmsche Gesetz aus der Schule.

Wenn man beim Kopfhörer einen der beiden Anschlüsse jeder Seite im Kabel auf einen gemeinsamen Draht legt, der zum Stecker führt, dann ist die Impedanz dieses gemeinsamen Drahtes die gemeinsame Impedanz, über die das Signal von einer Seite auf die andere koppelt. Das ist unser wahrer Kern.

Die eine Hinsicht, in der das irreführend ist, hat mit der Psychoakustik zu tun. Über einen Kopfhörer hört man Stereo, und da ist in der Praxis nicht viel Kanaltrennung nötig. Wenn ein kleines bißchen Signal von links nach rechts überspricht, oder umgekehrt, dann geht das wahrnehmungsmäßig unter, es sei denn das Übersprechen ist ausgesprochen stark. Wir reden hier von Übersprechen, das selbst in ungünstigen Situationen wohl kaum 1% erreicht, und das müßte nach allem was man weiß psychoakustisch unbedenklich sein.

Die andere Hinsicht, in der es irreführend ist, liegt in der Größe der gemeinsamen Impedanz, bzw. wie man sie minimieren kann. Es ist Euch vielleicht aufgefallen, daß ich oben von einer Strecke geschrieben habe, durch die die Impedanz zustande kommt. Nun, diese Strecke kann man auch dadurch minimieren, daß man die Leitungen bis in den Stecker hinein getrennt hält, und erst dort zusammen führt. Die gemeinsame Strecke beschränkt sich dann auf einen oder zwei Zentimeter im Stecker bzw. in der Buchse. Die gemeinsame Impedanz wird dann auch ohne völlige Trennung ziemlich klein. Viele Kopfhörer machen das ohnehin schon lange, weil man zum linken und rechten Schallwandler getrennte Leitungen legt, die nur mechanisch aneinander haften, aber keinen elektrischen Kontakt bewirken. Verbunden werden die beiden Seiten nur im Stecker.

Durch eine völlige Trennung der beiden Seiten mittels eines 4-pol Steckers eliminiert man also nur noch einen sehr kleinen Rest an gemeinsamer Impedanz, wie sie durch den Stecker und die Buchse zustande kommen. Genauer gesagt durch den "Massekontakt" in diesem Stecker/Buchse-System.

Aber gut, man kann das Ganze auch von der anderen Seite her sehen, und sagen, der symmetrische Anschluß sei der "natürliche" Weg, einen Kopfhörer anzuschließen, denn er ist nun einmal für sich gesehen vierpolig, zwei pro Seite. Egal ob das nun einen merklichen Unterschied macht oder nicht. Man muß so auch nicht eine technische Kompromißentscheidung über eine quantitative Betrachtung rechtfertigen - man hat die Verbindung auf technisch optimale Weise vollzogen.

Das heißt man hätte beim Würfelstecker bleiben können, denn der war in dieser Hinsicht schon optimal. Daß solche DIN-Stecker nicht gar so billig und beschissen sein müssen als sie aus Kostengründen oft waren, kann man an der Verwendung robusterer Varianten in der Industrie noch heute sehen. Ein dem XLR-Stecker vergleichbares Qualitätsniveau ist jedenfalls damit kein Problem.

Daß man beim Würfelstecker nicht geblieben ist, und stattdessen in den 80-er Jahren auf den Klinkenstecker ungestiegen ist, muß aber seine Gründe gehabt haben, die seither bestimmt nicht einfach verschwunden sind. Es muß einen Grund geben, warum der Klinkenstecker besser ist, obwohl er "einen Kontakt zu wenig" hat. Und der ist leicht zu sehen: Einen Klinkenstecker kann man "blind" stecken, während man Würfelstecker oder XLR-Stecker in die richtige Position drehen muß. Für Verbindungen, die oft gesteckt werden, ist damit der Klinkenstecker die bessere weil bequemere Wahl.

Beim Würfelstecker wollte man wohl zu clever sein, denn damals fand man es nützlich, wenn man den Stecker in 2 unterschiedlichen Orientierungen in die Buchse stecken konnte, denn durch einen in der Buchse eingebauten Schalter konnte das Gerät die Orientierung "erfühlen", und das dazu verwenden, wahlweise den Lautsprecher ein- oder auszuschalten wenn ein Kopfhörer eingesteckt war. Im Grunde hat man damit nur einen getrennten Schalter eingespart, den man unabhängig betätigen kann. In meinen Augen eine gut gemeinte Schnapsidee, denn eigentlich will man den Lautsprecher ein- oder ausschalten können, ohne den Kopfhörer umstecken zu müssen.

Die beiden Orientierungen führten auch dazu, daß die Phase der beiden Schallwandler gedreht wurde, was man (mit einigem Recht) für gleichgültig hielt. Aber man hätte eine der beiden Orientierungen auch blockieren können, wenn man das gewollt hätte. Dann hätte es auch kein Problem mit der Phase gegeben. Es gab sogar einen fünften Kontakt, den in der Mitte, der auf Masse lag, so daß man daran einen Schirm fürs Kabel hätte anschließen können. Was aber im Grunde unnötig ist.

Sennheiser hatte sogar mal eine Zeit lang einen stapelbaren Würfelstecker gebaut. Der hatte eine Buchse, in die man einen weiteren Kopfhörer einstecken konnte, so daß mehrere Leute das gleiche Signal hören konnten. Bei Klinkensteckern braucht so etwas einen Y-Adapter. Aber da man die Lautstärke nicht getrennt regeln kann, ist das auch nicht besonders nützlich. Wann will man schon mal zu zweit oder mehreren das gleiche Stück gleich laut mit Kopfhörer hören?

Ich bin daher nicht so überzeugt daß der 4-pol XLR für Kopfhörer der Bringer ist, leidet er doch unter ganz ähnlichen Nachteilen wie weiland der Würfelstecker. Vielleicht ist da dem Pentaconn mehr Erfolg beschert, denn es ist ein Klinkenstecker. Weil er außerdem wesentlich kleiner ist, passt er auch besser zu tragbaren Geräten.

Die Motivation für einen symmetrischen Kopfhörerstecker bei tragbaren Geräten hat mit dem Übersprechen übrigens recht wenig zu tun, egal was einem das Marketing auch weiszumachen versucht. Sony verbreitet zwar gerne audiophilen Bullshit, aber hinter dem Pentaconn steckt der Trend zu immer kleineren Betriebsspannungen in tragbaren Geräten. Wenn man da auf dem Kopfhörer noch einen anständigen Pegel erreichen will, dann kommt man darauf, daß man gerne "gebrückte" Verstärker einsetzen würde, denn damit kann man bei gleicher Betriebsspannung und gleicher Kopfhörerimpedanz die vierfache Leistung an den Kopfhörer abgeben. Für den gleichen Effekt müßte man einen normalen Verstärker mit der doppelten Betriebsspannung versorgen.

Gebrückte Verstärker gibt es bei Lautsprechern schon sehr lange, besonders im Auto sind sie sehr verbreitet. Dabei nimmt man zwei Verstärker für einen Lautsprecher, die in Gegenphase arbeiten, und jeder einen Anschluß des Lautsprechers antreibt. Das ist also ebenfalls "symmetrisch", wobei man das nicht wegen der Störunempfindlichkeit macht, sondern wegen der größeren Leistung bei gegebener Betriebsspannung. Lohnen tut sich das immer dann, wenn man für das Bereitstellen einer höheren Betriebsspannung mehr Aufwand treiben müßte, als es der zusätzliche Verstärker darstellt. Bei batterieversorgten Geräten kann das leicht vorkommen.

Die "unsymmetrischen" Kopfhöreranschlüsse mit klassischem Klinkenstecker stehen dieser gebrückten Betriebsart aber im Weg, denn dafür braucht man getrennte Anschlüsse für beide Schallwandler. Die Motivation für den Pentaconn ist also recht pragmatisch, wenngleich sich das Marketing vermutlich gedacht hat, daß man mit dem audiophilen Märchen wohl weiter kommt.

Für den Pentaconn als Kopfhörerstecker kann ich mich folglich durchaus erwärmen, vielleicht verschwindet der 4-pol XLR dadurch allmählich wieder in der Versenkung, was nicht das Schlechteste wäre. Daß er in seiner Größe zwischen dem 3,5 mm Klinkenstecker und dem 6,35 mm Klinkenstecker liegt finde ich durchaus nicht schlecht, denn das macht ihn meiner Ansicht nach robust genug auch für "ernsthafte" Anwendungen.

Wenn nur die unsinnigen audiophilen Begründungen nicht wären...

Noch ein Nachtrag:

Um den Punkt mit der gebrückten Verstärkertechnik noch etwas zu vertiefen, und meine Präferenz für den Pentacomm noch zu unterstreichen, rate ich dazu, sich mal zu überlegen wie wohl Adapter aussehen müssen, die zwischen der symmetrischen und der unsymmetrischen Anschlußtechnik vermitteln. Da gibt es zwei Fälle:

1. Ein symmetrischer Kopfhörer soll an einem Gerät betrieben werden, das konventionelle Kopfhörerausgänge hat. Das ist der einfache Fall. Man verbindet einfach beide Rückleitungen (oft auch mit L- und R- bezeichnet) des Kopfhörers mit dem Masseanschluß des TRS-Klinkensteckers.

2. Ein unsymmetrischer Kopfhörer mit TRS-Klinkenstecker soll an einem symmetrischen Ausgang des Gerätes betrieben werden. Das ist der spannende Fall. Wenn man es genauso verdrahtet wie im obigen Fall, dann verbindet man zwei Ausgangssignale miteinander. Wenn das Gerät einen gebrückten Ausgang hat, was wie oben erklärt der einzige wirklich relevante Grund für die symmetrische Anschlußtechnik ist, dann werden durch so eine Adapterverdrahtung zwei Ausgänge gegeneinander arbeiten. Auch wenn sie davon nicht kaputt gehen, ist das doch nicht gut, und kann z.B. schnell die Batterie leersaugen.

Solche Adapter für den zweiten Fall gibt es schon, und das ist schon nahe an der Irreführung von Käufern, denn die funktionieren nur zufriedenstellend, wenn die gebrückte Verstärkertechnik eben nicht benutzt wird. In diesem Fall braucht man aber die ganze symmetrische Anschlußtechnik nicht.

Der Pentaconn ist für diese Situation gerüstet, denn der zusätzliche Massekontakt macht es überflüssig, die L- und R- Anschlüsse zu benutzen, wenn man auf unsymmetrische Anschlußtechnik umsteigen will. Man verliert dabei zwar die halbe Ausgangsspannung, kann also nicht ganz so laut hören wie bei symmetrisch angeschlossenen Hörern, aber es passiert ansonsten nichts Problematisches.

Das ist eines des typischen Probleme in der Audiotechnik: Gerade kleinere Firmen machen sich bei der Einführung ihrer neuesten "guten Idee" selten genug Gedanken, wie das zusammen passt mit dem was schon auf dem Markt ist. Besonders gut sichtbar ist das bei den Firmen, die für den symmetrischen Anschluß einfach den 4-pol 3,5 mm Klinkenstecker benutzen, ohne sich darum zu kümmern wie man dem Kunden erklärt was nun zusammen passt und was nicht. Oder auch der "Pionier" HeadRoom Audio, der einfach den weiblichen 3-pol XLR als Ausgang betreibt, wo doch bei XLR allgemein üblich ist, den männlichen als Ausgang und den weiblichen als Eingang zu benutzen. So etwas kann nur Verwirrung stiften. Ich finde das verantwortungslos.

Da der Pentaconn recht spät auf der Bildfläche erschienen ist, gibt es Leute die sich fragen, ob es wirklich noch einen weiteren Stecker für symmetrische Kopfhörer gebraucht hat. Ich denke ja. Der Pentaconn ist die beste Lösung für diese Anwendung. Die Vorgänger haben nicht weit genug gedacht.

Aber wie es bei Audiophilen so ist, würde mich nicht wundern wenn der Stecker gerade deswegen durchfällt. Wer will da schon eine gut durchdachte Lösung?

Sonntag, 8. April 2018

Offener Brief an Marc

In der April-Ausgabe von Sound&Recording, die ich vor kurzem aus dem Briefkasten gezogen habe, habe ich heute eine Story gelesen über den Besuch des Chefredakteurs Marc Bohn bei der Kabelfirma Vovox in der Schweiz, anläßlich deren 15-jährigen Firmenjubiläums (siehe diesen Lead). Kann ich nicht so stehen lassen. Drum hier eine öffentliche Replik an den Verfasser.

Lieber Marc,

mach Dich auf was gefaßt. Ich kann ja verstehen, daß man als Zeitschrift auch aufs Geld achten muß, und das kommt nun einmal von den Anzeigenkunden. Nicht ausschließlich, ein bißchen trägt auch mein Abo bei, aber die Prioritäten liegen nun einmal so wie sie liegen, nicht wahr?

Nur, warum muß man sich dafür derart zum Kasper machen?

So, Du hast Dich also vorbereitet angesichts des kritischen Themas "Kabelklang", wolltest "nach Punkten kritisch fragen", und doch "offen und unvoreingenommen zuhören". Wo ist dann dieser Plan geblieben? Wo sind die kritischen Fragen? Wo ist das Nachhaken, wenn dich der Firmenchef Jürg Vogt mit nichtssagenden Antworten abspeist? Wo bleibt der Journalismus?

Beispiel Laufrichtung: Schön daß Du nach einem elektrotechnischen Hintergrund fragst. Der hätte mich auch interessiert. Jürg liefert den aber nicht. Er hat "sehr viel darüber nachgedacht", und ist sich nach 15 Jahren Firmengeschichte "sehr sicher, daß es etwas mit der Orientierung der Kristallite" zu tun hat. Viel mehr kommt nicht. Warum fragst Du nicht weiter: Was hat es damit zu tun? Warum ist er sich sehr sicher, welche nachvollziehbaren Fakten und Indizien hat er zusammen getragen? Wie hat er sich davon überzeugt, daß er sich nicht täuscht? Wie paßt das mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand zusammen? Warum ist es nach so langer Zeit immer noch eine These, was fehlt noch zum Nachweis, und wie soll er erbracht werden?

Stattdessen: Nächstes Thema, Abschirmung. Jürg hat "aufgrund verschiedener Tests" festgestellt, daß es "an der Leiteroberfläche ganz viele Wechselwirkungen" gibt. Warum keine Nachfragen: Interessant! Welche sind das, wie hat er sie festgestellt, was wird dadurch bewirkt, inwiefern geht das über das hinaus was man durch die klassische Elektrotechnik erklären kann?

Ebenfalls Fehlanzeige. Stattdessen die Gelegenheit für Jürg, mit einem anscheinend sehr aufwändigen Produktionsprozeß Eindruck zu schinden.

Und das war's auch schon mit dem kritischen Nachfragen. Ansonsten reichlich Gelegenheit für Jürg, die Sympathiebreitseite als enthusiastischer undogmatischer offener toleranter sozialer beliebter großzügiger Musiker und Musikliebhaber abzufeuern, die schon dermaßen dick aufgetragen ist, daß man sich wirklich fragt ob er das nötig hat.

Schließlich kommt es wie es kommen muß: Er hat Dich um den Finger gewickelt, und Deinen Kollegen Martin erst recht. Es stimmt! Kabel klingen! Sogar Stromkabel!

Bullshit.

Du wolltest von vorn herein nicht kritisch sein, Du hast Dich zum Erfüllungsgehilfen eines ebenso plumpen wie zweifelhaften Marketings gemacht, von dem Du vorher wissen konntest, und wahrscheinlich auch gewußt hast, worauf es hinaus läuft. Es wäre ehrlicher gewesen, auf dieses Miniatur-Feigenblatt von kritischer Haltung zu verzichten, das Du im Beitrag vor Deine kaum wahrnehmbare Scham hältst.

Es geht um die Pflege von Geschäftsbeziehungen, das wissen wir doch beide! Edelkabelhersteller haben ein gut ausgestattetes Marketingbudget, und davon soll schließlich ein möglichst großer Teil bei Deiner Zeitschrift landen. Da stört kritisches Nachfragen nur, außer es ist lediglich proforma und leicht angedeutet.

Dabei ist klar: Wenn jemand wie Jürg Vogt nach 15 Jahren Beschäftigung immer noch nichts weiter vorzuweisen hat als solche leeren Phrasen, dann ist da auch nichts. Nur ist das eine wenig geschäftsfördernde Einsicht, die zum Glück auch der angepeilten Kundschaft nicht schmeichelt. Also konspirieren alle miteinander im Versuch, den Elefanten im Raum, was sage ich, die Elefantenherde!, nach allen Regeln der Kunst zu übersehen.

Ist Deine Glaubwürdigkeitseinbuße das bißchen Geld wert? Jürg Vogt kann Euch bestrafen, indem er nicht mehr bei Euch inseriert. Das wird Euch nicht umbringen, und er wird wiederkommen. Irgendwo muß sein Marketingbudget ja hin. Manchmal wäre es wirklich besser, Haltung zu zeigen.

Ein leicht angenervter Abonnent dem es gerade durch den Kopf geht, ob er nicht besser Ex-Abonnent wäre.

Freitag, 9. März 2018

MQA: DRM oder nicht?

Über MQA habe ich schon früher geschrieben, aber da dieser Unsinn nicht verschwinden will, braucht es wohl weitere Artikel. Hier geht es mir speziell um die Frage, ob MQA eine Art von Kopierschutz ist, oder nicht. Die MQA-Erfinder und Befürworter haben immer wieder abgestritten, daß es sich um eine Form von DRM (Digital Rights Management) handelt, Kritiker behaupten das Gegenteil, bis hin zur Aussage, es handle sich um eine Art von DRM-Trojaner, also die heimliche Einführung von DRM durch die Hintertür.

Ich hab mir die Sache angesehen, und bin der Meinung, daß an der Trojaner-Behauptung sehr wohl was dran sein kann.

Wer schon lange genug dabei ist, kann sich bestimmt noch an die mehreren Versuche der Industrie erinnern, der CD einen Kopierschutz zu verpassen. Die sind allesamt gescheitert, wie nicht nur wir wissen; der Musikindustrie ist das noch viel schmerzhafter bewußt. Das bedeutet nicht, daß sie diese Versuche ein für alle mal eingestellt hätten. Es bedeutet aber, daß sie sich im Klaren darüber sind, daß man die Sache intelligenter anpacken muß, und dazu gehört auch ein längerer Atem.

Nimm also mal hypothetischerweise an, Du wärst ein skrupelloser Bonze aus der Musikindustrie, der sich nie damit abfinden konnte, daß die Technik das umstandslose Kopieren und Verteilen auch der hochqualitativsten Aufnahmen einfach und billig gemacht hat, und nach Möglichkeiten sucht, Geldquellen neu zu erschließen, die ihm dadurch verloren gegangen sind. Skrupellos deshalb, weil Dir völlig egal ist, wie es dem Konsumenten oder auch dem Musiker dabei geht, deren Interessen vertrittst Du nicht. Dein Motiv ist die Liebe zum Geld, und nicht die Liebe zur Kunst. Wie würdest Du vorgehen, wohl wissend um die Fehler der Vergangenheit?

Du denkst so: Die Rechte an der Aufführung und Vervielfältigung der Musikstücke gehören mir. Die Künstler haben diese Rechte an mich abgetreten. Die billige und einfache Kopiererei hat mich dieser Rechte beraubt. Was ich brauche, ist eine Methode um mir diese Rechte zurückzuholen. Ich brauche eine technische Infrastruktur, die es mir erlaubt, das auch durchzusetzen, und zwar notfalls auch gegen den Konsumenten. Ich brauche ein technisches System, das meine Rechte "managt". Also DRM.

Das darf der Konsument aber nicht merken, denn dagegen ist er inzwischen allergisch. In der Praxis hat DRM immer auch Nachteile für den ehrlichen Nutzer gebracht, z.B. Probleme beim Nutzen des legal erworbenen Materials auf unterschiedlichen Wegen (daheim vs. im Auto, im Heimnetzwerk, etc.). Für den ehrlichen Nutzer ist DRM eine unnötige und lästige Nerverei, die er sich nicht freiwillig antut.

Wenn Du also als Musikindustrie-Bonze einen weiteren Versuch unternehmen willst, Dir Deine Rechte zurück zu holen, dann brauchst Du eine Methode, die diese Allergiereaktion nicht auslöst, am Ende aber trotzdem das bewerkstelligt, was Du erreichen willst. Und jetzt wird's spannend: Wie könnte so etwas aussehen? Wie geht man dabei vor, und was kann am Ende dabei heraus springen?

Klar ist dabei unmittelbar, daß man etwas einführen muß, das zumindest am Anfang als Vorteil wahrgenommen wird, ohne daß es auch nur eine Spur der Nachteile hat, die man mit DRM assoziiert. Die Nachteile dürfen erst spürbar werden, wenn es schon keinen Weg mehr zurück gibt, ansonsten scheitert man zu früh. Das bedeutet, man muß von vorn herein langfristig planen. Man braucht ein System, das es erlaubt, die gewünschte DRM-Funktionalität erst nachträglich zu aktivieren, wenn man eine dominante Marktposition errungen hat. Die Erringung einer dominanten Marktposition dauert aber auch im günstigsten Fall viele Jahre. Ein Jahrzehnt ist sicher nicht zu lang gedacht.

Vorher, während man diese dominante Position noch zu erreichen versucht, muß man Vorteile vorweisen können, man muß einen Köder haben, sonst beißt der Fisch nicht an. Ideal wäre ein System, bei dem der Vorteil von der gleichen technischen Infrastruktur abhängt, wie das später mögliche DRM. Das ist der Trick hinter dem trojanischen Pferd. Es ist ein Geschenk, das in seinem Bauch ein verstecktes Unheil birgt. Der Köder, in dem der Haken verborgen ist.

Mit so einem Plan im Kopf, wie würdest Du über MQA denken? Was bietet Dir MQA, um dem Konsumenten eine Form von "Digital Rights Management" unterzujubeln, ohne daß er es merken würde bevor es zu spät für ihn ist? Eine ganze Menge, wie sich zeigt:
  • MQA bietet Geheimhaltung. Was da genau an Mechanismen drin ist, wird nicht offen gelegt. Das hat mindestens schon mal den Vorteil, daß man Kritikern vorhalten kann, sie wüßten nicht wirklich Bescheid und würden bloß spekulieren, und damit Panikmache betreiben.
  • MQA enthält kryptografische Infrastruktur zur Authentifikation. Diese "Authentication" wird als Vorteil angepriesen, als Garantie für den Konsumenten, daß er wirklich eine zertifizierte Qualität bekommt. Wer ein bißchen davon versteht, weiß aber daß die dazu nötige kryptografische Infrastruktur dieselbe ist, die man auch zur Verschlüsselung und Zugriffskontrolle einsetzen kann. Es ist also einfach, alle nötigen Mechanismen sowohl für Authentifizierung als auch für Zugriffskontrolle in die Geräte einzubauen, und ggf. später davon Gebrauch zu machen.
  • MQA bietet zwar im Moment noch keine Methode, wie ein Abspielgerät rückfragen kann, also z.B. über das Internet dynamisch die Erlaubnis zum Abspielen einholen kann. Einige gängige Lizenzverwaltungssysteme, wie man sie von Software kennt, funktionieren so natürlich nicht. Aber es ist ohne weiteres denkbar, eine Lizenzverwaltung in nur eine Richtung damit zu implementieren. Z.B. könnten Informationen zum Ungültigmahen von Schlüsseln in eine ganz normale Audiodatei oder in einen Stream eingebettet werden, so daß man einfach dadurch, daß man einen neueren Titel abspielt, das Recht zum Abspielen eines älteren Titels verliert. Außerdem, falls man je mal einen Rückfrageweg brauchen sollte, könnte man den auch nachträglich hinzufügen, wenn man mal genug Marktmacht hat.
  • MQA bietet im Moment keine Methode, das Kopieren von Musik zu verhindern. Die Dateien oder Stream zu rippen wird auch mit MQA problemlos möglich sein. Abspielen kann man aber erst einmal nur den "linearen" Teil des Materials, ohne den durch den MQA-Decoder bereit gestellten HiRes-Teil, an den man nur mit einer Lizenz kommt. Welche Qualität der lineare Teil hat, bestimmt aber nicht der Konsument, sondern derjenige, der den MQA-Encoder betreibt. Also Du, der Bonze der Musikindustrie. Auch der Künstler wird da in der Praxis nichts mitzureden haben. Das bietet Dir die Möglichkeit, die problemlos abspielbare Qualität auf das Niveau einer Compact-Cassette (remember?) herunter zu fahren. Für mehr braucht es eine Lizenz. Diese Möglichkeit darf man aber auf keinen Fall zu früh nutzen, sonst gibt man seinen Trumpf zu früh aus der Hand. Bis genug Marktmacht errungen ist, muß man den linearen Teil in etwa auf CD-Qualität lassen. Später hast Du als Betreiber des Encoders dann mehr Freiheiten. Es ist bisher der Öffentlichkeit unbekannt, wie weit man damit im MQA-System gehen kann. Es gibt wohl Anzeichen, daß man die Auflösung des linearen Teils auf 10 Bit herunterfahren könnte, wenn man wollte. Das wäre kaum UKW-Qualität. Da man Titel schon seit Jahr und Tag im Radio mitschneiden kann, wäre das keine ernsthafte Einschränkung.
  • Die Authentifizierung in MQA bietet die Möglichkeit der Lizensierung auf der ganzen Wertschöpfungskette, nicht bloß beim Abspielen. Was das bedeuten kann, hat Jim Collinson von Linn hier erklärt.
Du siehst, MQA iat eigentlich perfekt dazu geeignet, das umzusetzen was Dir vorschwebt. Jetzt darfst Du es bloß nicht vermasseln, indem Du zu früh erkennen läßt, worum es Dir geht, und stattdessen den Eindruck erwecken, das Ziel sei eine Steigerung der Audioqualität, wogegen ja niemand etwas haben kann.

Also muß abgestritten werden, daß es um DRM geht. Eine Strategie dabei ist, DRM mit Kopierschutz zu assoziieren. Wenn DRM = Kopierschutz, dann ist klar, daß MQA kein DRM ist, denn MQA enthält keinen Kopierschutz. Das ist eine zu eng geführte Definition von DRM, denn eigentlich geht es dabei nicht zentral um die Frage, ob Du als Konsument das Material kopieren kannst, sondern allgemeiner um die Frage wie Du es nutzen kannst. Aber die Engführung erlaubt es, ohne offene Lüge etwas abzustreiten, was Du insgeheim tatsächlich anstrebst.

Die ehrliche Antwort auf die Frage, ob MQA DRM enthält wäre also: Jein. Nicht die alte Kopierschutzkamelle. Aber etwas weit perfideres.

Es muß auch ein Köder da sein, also ein Vorteil, den man den Konsumenten einreden kann. Der Musikindustrie den Vorteil klar zu machen ist kein Problem, siehe oben. Warum eine Sony oder eine Warner MQA gut findet ist sofort klar. Wie sie ein Konsument gut finden soll, ist etwas schwieriger einzufädeln, zumal nicht wenige den Braten riechen werden.

Wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat, versucht man es dabei mit altbekannten Mitteln, also mit der Sau, die man seit Jahrzehnten regelmäßig durch's Dorf getrieben hat: Die Audioqualität soll besser sein. In der audiophilen Ecke holt man sich da eigentlich automatisch Beifall, und es ist auch nicht schwer, genügend Leute zu finden die Verbesserungen hören. Die Fanboy-Maschine ist hier gut geölt und immer bereit. Die "Fach"presse ist ebenfalls seit vielen Jahrzehnten unter Kontrolle, und verbreitet das was die Geldgeber wollen. Also keine Probleme hier.

Das Problem ist aber, daß das Mißtrauen der Konsumenten ebenfalls recht groß ist, wenigstens desjenigen Teils davon, dessen Erinnerung mehr als ein paar Jahre zurück reicht. Bei denen scheint man sich damit zu behelfen, sie als die "üblichen Verdächtigen" bei der Ablehnung technischen Fortschritts zu verunglimpfen. Problem dabei: Etliche Hersteller von Abspiel- bzw. Streaming-Geräten scheinen ebenfalls skeptisch zu sein. Schließlich würden auch die sich von MQA und der dahinter stehenden Lizensierungs-Maschine abhängig machen. Man ist an Dolby erinnert, nicht unbedingt eine angenehme Erinnerung für so manchen Hersteller.

Ebenfalls skeptisch macht die Geheimniskrämerei, und der Bullshit-Pegel, der aus der MQA-Ecke kommt. An Rhetorik fehlt es nicht, aber daß MQA tatsächlich bessere Qualität liefert ist über das Behauptungsstadium nicht hinaus gekommen. Seriöse Tests gibt es wenig, und was es gibt zeigt keinen merklichen Vorteil. Es ist zudem wenig überzeugend, warum der eher geringe Einsparungseffekt an Datenmenge, besonders wenn man es mit FLAC und Konsorten vergleicht, einen solchen Aufwand rechtfertigt, selbst wenn dadurch bessere Qualität als von der CD heraus kommen sollte. Deswegen sagen ja auch etliche Leute, daß das Q in MQA eine Lösung für ein nicht existentes Problem sei. Wer bessere Qualität als CD zu brauchen glaubt, kann sich auch eines HiRes-Formates im Zusammenhang mit FLAC bedienen, und spart sich den ganzen Lizenzquatsch.

Noch dazu kommt, daß es mit dem Versprechen der Master-Qualität nicht weit her ist. Man will anscheinend dem Konsumenten weis machen, die Authentifizierung bedeute, daß er die Qualität bekommt, die der Künstler gewollt und abgesegnet hat. Das ist natürlich gelogen. Über die MQA-Qualität bestimmt derjenige, der den Encoder hat. Das ist so gut wie nie der Künstler, und das Ergebnis des Encodierens wird auch ohne die Mitwirkung des Künstlers unter die Leute gebracht werden. Für den Künstler verbessert sich damit gar nichts, eher im Gegenteil.

In der Praxis wird das schon existierende Material nochmal durch den Encoder gejagt, womit man es erneut verkaufen kann, so wie das schon früher mit den Remasterings war. Die waren auch regelmäßig nur lauter, nicht aber klanglich besser (eher im Gegenteil). Aus ähnlichen Gründen wird auch das MQA-Material letztlich bloß eine Neuveröffentlichung desselben Materials sein, von dem man behauptet es klänge besser (was man immer behauptet hat), was aber meist doch nicht besser klingt. Wobei man dafür sogar die Möglichkeiten hätte, indem man die Lautstärke zurück nimmt.

Aber man kann mir natürlich hier übertriebenen Pessimismus vorwerfen. Das Urteil liegt bei Euch: Was findet Ihr glaubwürdiger, daß MQA endlich das Format ist, nach dem die Anwender die ganze Zeit gelechzt haben, und das endlich alle Probleme behebt, die PCM angeblich hat? Oder daß es eine schlau eingefädelte Finte ist, um den Konsumenten das Schlucken des Köders schmackhaft zu machen, in dem der DRM-Haken verborgen ist?

Für weiteren Informationsbedarf siehe z.B. Archimago's Blog, oder auch ein langer Thread auf CA.

Vielleicht wollt Ihr aber auch die Seite der MQA-Firma (ja, sie haben sich aus Meridian ausgegründet) ansehen, wo man - wer hätte es gedacht - den Künstler in den Vordergrund stellt. Man findet da offenbar immer genug Kälber, die freiwillig in den Schlachthof gehen.

Sonntag, 4. Juni 2017

Unideologisches Klima

Wie gut, daß es den Berliner Kreis der CDU gibt. In einer Zeit, in der die Klimapolitik in aller Munde ist, nicht zuletzt wegen Trump, sehnt man sich geradezu nach einer ideologiefreien, nüchternen und sachorientierten Diskussion dieses emotionsgeladenen Themas. Gerade rechtzeitig hat jetzt der Berliner Kreis ein Papier mit dem Titel "Klima- und energiepolitische Forderungen" veröffentlicht, mit dem er die Diskussion zu versachlichen sucht.

Und wirklich: Wer könnte besser geeignet sein für eine ideologiefreie Diskussion als der Berliner Kreis? Wer das Papier liest, dem wird schnell klar daß hier auf jegliche Ideologie konsequent verzichtet wurde. Ich komme gar nicht darum herum, das ausführlich zu würdigen, natürlich ebenso unideologisch, nüchtern und ohne jegliche Ironie, wie das hier im Blog ja von mir bekannt ist. Ich halte mich an die Reihenfolge in ihrem Papier:

Zu 2) Mehr Einordnung

Hier wird darauf hingewiesen, daß der Klimawandel wohl kaum nur auf menschlich verursachte Treibhausgase zurückzuführen sein kann. Andere Ursachen kommen auch in Frage, z.B. Vulkanausbrüche und Meteoriten. Könnte ja sein daß in den letzten 100 Jahren einfach zu viele Meteoriten heruntergefallen sind oder Vulkane ausgebrochen. Wer weiß das schon genau?

Ich würde noch hinzufügen, daß etliche der Treibhausgase ja Verdauungsprodukte von Rindern sind, und schon deswegen nicht als menschlich verursacht gelten können. Man sieht deutlich, wie sehr die Diskussion bisher auf den Menschen als Verursacher enggeführt wurde. Das wird dem Problem nicht gerecht.

Zu 3) Mehr Sachlichkeit

Auch hier wird berechtigterweise darauf hingewiesen daß nicht alles schmelzende Eis den Meeresspiegel anhebt. Das Eis nämlich, das schon auf dem Meer schwimmt, wirkt sich auf den Meeresspiegel nicht mehr aus, wenn es schmilzt. Jetzt müsste man also lediglich noch dafür sorgen, daß das Landeis nicht schmilzt. Auch wenn im Papier nichts davon erwähnt ist, bin ich doch überzeugt daß der Berliner Kreis schon an einer praktikablen Lösung arbeitet, soweit das angesichts der "sehr unübersichtlichen Datenlage" möglich ist.

Einstweilen hat er aber die daraus entstehenden Chancen erkannt. Geschmolzenes Meereis ist der Schifffahrt nicht mehr im Weg, daraus ergeben sich neue Routen für Kreuzfahrtschiffe, und kürzere Handelswege nach China. Sogar die somalischen Piraten kann man so elegant ausmanövrieren.

Zu 4) Keine moralische Erpressung

Man spürt, daß dieser Punkt dem Berliner Kreis ein besonderes Ärgernis ist. Wie kann man von den Menschen hierzulande verlangen, daß sie auf ganze Wälder von Windkraftanlagen blicken, wo doch noch gar nicht hundertprozentig bewiesen ist, daß die Folgen des Klimawandels so eintreten wie es die Modelle voraussagen? Zeigt nicht schon die Tatsache, daß es immer wieder neue Modelle gibt, und sie immer weiter angepasst werden müssen, daß man sich nicht auf sie verlassen kann?

Es wäre daher viel besser, wenn man erst einmal die Modelle so perfektioniert, daß sie hundertprozentig zutreffende Vorhersagen ermöglichen. Und man müßte natürlich den Beweis abwarten, daß das tatsächlich stimmt, sprich man müßte warten, ob die Folgen auch tatsächlich eintreten. Nur dann kann man sicher sein, daß man sich auf die Modelle verlassen kann. Nur dann kann man politische und wirtschaftliche Entscheidungen darauf gründen.

Vorher ist das alles nur Panikmache.

Zu 5) Weltklimarat IPCC reformieren

Es ist unbestritten, daß der Weltklimarat in den Medien ziemlich oft erwähnt wird und in der Klimadiskussion eine große Rolle spielt. Es ist klar daß das insbesondere für die Politiker zu einer Belästigung ersten Ranges geworden ist, gegen die man in passender Weise vorzugehen versucht. Man darf die Klimapolitik nicht den Fachleuten überlassen, das hat die US-amerikanische Regierung früher erkannt als die Europäischen Regierungen, wir haben hier also einen Nachholbedarf.

Daß der eigentliche Sachverstand in dieser Frage im Berliner Kreis verortet ist, merkt man daran daß der Berliner Kreis erkannt hat, daß die Berichte des IPCC "Fehler und Überhöhungen" enthalten. Das kann man nur beurteilen, wenn man sich mit der Materie besser auskennt als der IPCC selbst. Der Berliner Kreis hätte sich solche Fehler und Überhöhungen sicher nicht geleistet.

Es wäre daher sicher zu begrüßen, wenn man in der Politik seltener mit den Berichten des IPCC beschäftigt würde, idealerweise so selten daß man zwischen den Berichten alles vergessen kann und mit jedem Bericht wieder von vorn beginnt. Die vorgeschlagene 10-Jahres-Frist entspräche hierzulande zweieinhalb Legislaturperioden, das dürfte für ein kollektives politisches Vergessen ausreichen.

Das hat übrigens schon relativ gut mit den Berichten des Club of Rome funktioniert, deren erster 1972 veröffentlicht wurde, also vor 45 Jahren. Es folgten "Updates" in den Jahren 1992, 2004 und 2012. Das sind genau die Abstände, von denen auch beim Berliner Kreis die Rede ist. Der letzte Bericht liegt 5 Jahre zurück. Erinnert sich jemand daran? Eben.

Für ein Gremium, das Politiker beraten soll, ist der IPCC zudem zu unabhängig. Normalerweise weiß ein Berater, was sein Auftraggeber hören will. Das ist in der Wirtschaft auch nicht anders. Man bezahlt den Berater, damit er das herausfindet, was man schon weiß, aber nicht so einfach durchsetzen konnte. Der Bericht des Beraters verschafft einem die nötigen Argumente und die Legitimation, sowie die Anmutung von Objektivität, und dafür bekommt er einen dicken Batzen Geld. In Deutschland wird der Bericht eines Beraters öfter einmal vom auftraggebenden Ministerium bearbeitet, ehe er veröffentlicht wird, falls sich die Experten nicht eng genug an die Vorgaben gehalten haben. Der Armutsbericht des Arbeitsministeriums scheint z.B. regelmäßig davon betroffen zu sein. Es liegt auf der Hand daß sich Politiker bei den Berichten des IPCC dieselben Möglichkeiten wünschen.

Zu 6) Keine Klimamanipulationen

Hier wird die Nüchternheit der Betrachtungsweise des Berliner Kreises besonders deutlich. Großtechnisches "Climate Engineering" würde unweigerlich sehr viel Geld kosten, und das bei schwierig zu bewertenden Risiken und unkalkulierbaren Nebenfolgen.

Die Risiken des Nichtstuns sind da viel billiger zu haben. Sie sind außerdem weniger schwierig zu bewerten und besser kalkulierbar. Genau das macht ja z.B. der IPCC.

Zu 7) Anpassung als neue Strategie

Hier kommen wir zum zentralen Punkt der Sache: Chancen nutzen statt Gefahren bekämpfen. Ist doch nicht so schlimm wenn's mal wärmer wird, das hat es schließlich immer wieder mal gegeben.

So wie es sich abzeichnet könnte Deutschland dabei sogar günstig wegkommen. Die Probleme aufgrund eines steigenden Meeresspiegels halten sich in Grenzen. Das sieht man in Holland und Bangladesh sicher anders, aber hier in Deutschland haben wir einen geographischen Vorteil, den man ja auch nutzen kann. Wasser dürfte einstweilen genug vorhanden sein, eine Wüste oder Steppe entsteht hierzulande wohl erst einmal nicht. Und wie formulierte es schon Rolf Miller: "Wenn ich im März mit T-Shirt keinen Schnee mehr schippen muß -- ich kann es verkraften." (6:00)

Man spürt die Genugtuung der Autoren des Papiers, daß das 2-Grad-Ziel, für dessen Erreichung sie nie etwas getan haben und auch nicht tun würden, inzwischen so gut wie aussichtslos geworden ist. Zumal alles was man irgendwie absichtsvoll unternehmen könnte, automatisch eine Form von "Geo-Engineering" wäre. Folglich bleibt nur übrig, alles so laufen zu lassen wie es nun einmal läuft, was ohnehin das Bequemste ist. Wer nichts tut, macht eben auch nichts falsch.

In diesem Zusammenhang muß auch ein Wort der Kritik an die Wissenschaftler gerichtet werden. So oft sie in den letzten 50 Jahren ihre Klimamodelle geändert haben (teils "massiv", wie der Berliner Kreis schreibt), so kommt doch immer wieder dabei heraus daß es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine riesen Katastrophe gibt wenn wir nicht schleunigst unseren "ökologischen Fußabdruck" reduzieren. Es wäre langsam mal an der Zeit daß sie ihre Modelle dergestalt ändern, daß ein Ergebnis herauskommt, das besser in die politisch/wirtschaftliche Landschaft passt.

Statt den CO2-Ausstoß zu begrenzen, sollten wir uns in der Tat auf die Auswirkungen einstellen, also z.B. weniger Schneeschippen produzieren. Wenn es für Rolf Miller nicht schwierig ist, sich auf die neue Situation einzustellen, sollte das auch für den Rest von uns möglich sein. Falls ein paar Halligen und Sylt dabei untergehen, kann man die nötigen Staatshilfen sicher auch verkraften. Zum Ausgleich ist es dafür vielleicht überflüssig, die Elbe zu vertiefen, um größere Schiffe im Hamburger Hafen abfertigen zu können. Das wäre schon ein immerwährendes Streitthema weniger. Was sind ein paar Halligen dagegen?

Wie erwähnt werden die Probleme in anderen Gegenden der Welt eventuell gravierender sein, aber dafür können wir wohl kaum verantwortlich gemacht werden (die Betroffenen können ja mal versuchen dagegen Klage einzureichen -- das wird uns kaum tangieren). Ein paar flüchtige Holländer könnten wir durchaus in Deutschland einquartieren, die Leute von weiter weg müssten wir allerdings ggf. fern halten. Das Boot ist hierzulande ja notorisch voll. Zum Glück ist das Aufnahmevermögen des Mittelmeeres für Flüchtlinge noch längst nicht ausgeschöpft. Wir müssten nur einen größeren Aufwand für die Grenzsicherung einplanen, und wenn's dick kommt sollten wir vielleicht auch die mediale Berichterstattung ein wenig einschränken, um Unruhe gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Die Adaptionsleistungen wären für Deutschland wohl gar nicht so groß, jedenfalls so lange man sich die Probleme anderer Länder vom Hals halten kann. Der vorsorgliche Ausbau von Militär und Grenzschutz kann da sicherlich nicht schaden.

Zu 8) Realistische Klimaziele

Man sollte es vielleicht etwas konkreter formulieren: Deutschland sollte Klimaziele verfolgen, die auch ohne Anstrengung und politischen Willen erreichbar sind. Realistische Klimaziele sind die, die sich auch ohne konkrete Maßnahmen von selber einstellen würden, denn realistisch gesehen will man ja gar nichts tun, schon allein deswegen nicht weil davon möglicherweise die anderen eher profitieren als man selbst. Wie schon dargelegt wäre zudem jegliche konkrete Maßnahme ein Fall von "Geo-Engineering", und damit automatisch unerwünscht.

In Deutschland hat man einmal geglaubt, daß man der Welt zeigen könne, daß man die Energieversorgung relativ schnell auf erneuerbare Energien umstellen kann, wenn man das konsequent angeht und die entsprechenden Anreize schafft. Daß das Blödsinn war sieht man daran, daß es besser funktioniert hat als selbst diejenigen gedacht hatten, die den Zug damals ins Rollen gebracht haben, und jetzt stehen wir da mit kränkelnden Konzernen, die den Trend verschlafen haben, mit zu wenigen Stromtrassen, und mit einer Regierung, die zusieht wie der Strom für die Großkunden immer billiger wird während der Privatmann immer mehr EEG-Umlage bezahlt, und die sich nicht traut was dagegen zu unternehmen weil dann ja wieder die Industrie meckern würde.

Das leitet direkt über zu 9) Der Strompreis muss bezahlbar bleiben

Wir wissen ja alle, daß der beste Weg, zu günstigen Strompreisen zu kommen, darin besteht, daß man die Stromerzeugung in die Hand einiger weniger Großmonopolisten gibt. Insofern war es natürlich kontraproduktiv, dafür zu sorgen daß die Stromerzeugung so stark dezentralisiert wird. Die Stromkonzerne sind im Moment händeringend damit beschäftigt, die Kontrolle über den dezentralisierten Markt wieder zurück zu bekommen. Wenn sie das geschafft haben, werden wir bestimmt wieder bessere Zeiten erleben, in denen die Preise sich am Interesse der Kunden orientieren, wie immer im Kapitalismus.

Zu 10) Versorgungssicherheit in den Mittelpunkt stellen

Es kann keinen Zweifel geben, daß der Bevölkerung besonders vor der Vorstellung gruselt, daß es mal keinen Strom geben könnte. Die Befürchtung, daß die Lichter ausgehen könnten, gehört daher zum Standardinstrumentarium im politischen Diskurs. Dabei hilft, daß nur wenige Leute eine genauere Vorstellung davon haben wie es konkret um die Versorgungssicherheit steht, und wovon sie in welchem Maß abhängt. Aus diesem Grund sind die einfachsten Argumente immer die besten: Wenn der Wind nicht weht gibt's keinen Strom. Viel sicherer erscheint einem dagegen eine Stromproduktion durch Großkraftwerke, speziell wenn man sich keine Gedanken darüber macht, woher deren Brennstoff kommt, bzw. wie sicher er verfügbar sein wird.

In diesem Bereich sind sehr viele Fachleute am Werk, um unter den sich ändernden Randbedingungen die Regeltechnik des Stromnetzes anzupassen, so daß die Versorgungssicherheit erhalten bleibt oder sogar verbessert wird. Allerdings müssen ihre Aussagen für den Berliner Kreis verdächtig erscheinen, denn wie auch schon beim IPCC besteht der Verdacht, daß sie medialen und politischen Einflüssen unterliegen. Man kann die Sache hier nicht den Fachleuten überlassen, die Politiker sind in einer viel besseren Lage, die Situation nüchtern und unparteiisch zu beurteilen.

Zu 11) Die jetzige Form des unkontrollierten Ausbaus der Erneuerbaren Energien muss gestoppt werden

Hier hätte ich mir eine klarere Sprache gewünscht, denn wenn das Papier davon spricht, daß eine "sichere, bezahlbare und ökologische Energieversorgung in Deutschland nur mit Hilfe eines Energiemix realisiert werden" kann, dann könnte man denken daß der Ausbau der erneuerbaren Energien wie Windkraft, Sonnenenergie und Strom aus Biomasse genau das erreicht. Davor bestand der Energiemix in Deutschland in erster Linie aus Kohle, Kernkraft und Wasserkraft, da ist der Mix heutzutage doch erheblich breiter geworden. Man muß daher zwischen den Zeilen lesen, um zu entziffern was tatsächlich gemeint ist.

Die verwendeten Begrifflichkeiten deuten klar darauf hin, daß hier die Kernkraft als "sichere, bezahlbare und ökologische" Energiequelle zurück ins Spiel gebracht werden soll, auch wenn sie nicht ausdrücklich so hervorgehoben wird. Ich finde das hätte man auch klar sagen können, denn letzlich stellt sich ja die Frage, was denn sonst gemeint sein soll, wenn nicht die Kernkraft. Die Kohle wird man wohl kaum als ökologische Energiequelle bezeichnen wollen. Zudem wird ja auf den "überhasteten" Ausstieg aus der Kernkraft hingewiesen.

Dieses Bekenntnis zur Kernkraft ist etwas zu verquast und verdruckst als daß es überzeugend sein könnte. Andere Länder sind da weiter, wie z.B. in Großbritannien, wo die Kernkraft ganz offen weiter vorangetrieben wird. Vielleicht sollte damit Rücksicht auf die speziell deutsche Empfindlichkeit genommen werden, die die Kernkraft noch immer - natürlich aus rein ideologischen Gründen - mehrheitlich ablehnt.

Zu 12) Das EEG ist marktwirtschaftlich ineffizient und nicht wirklich reformierbar

Dieses Bekenntnis zur Marktwirtschaft kommt etwas spät, speziell in der Energiepolitik, aber besser spät als nie. Die Autoren beklagen, daß 20-jährige staatliche Garantien und Subventionen für den Bau neuer Stromerzeuger den marktwirtschaftlichen Grundprinzipien fundamental widersprechen. Wenn das vor 70 Jahren schon so gesehen worden wäre, dann hätten wir hierzulande keine Kernkraft aus der wir aussteigen könnten, denn es wäre kein Kernkraftwerk gebaut worden. Kein Wirtschaftsbetrieb, auch nicht ein Großkonzern, würde jemals ein Kernkraftwerk auf eigenes Risiko bauen, und hätte auch niemals die Entwicklung der Technologie finanziert. Das war immer schon eng mit staatlichen Interessen und staatlicher Protektion verknüpft.

Es irritiert daher ein wenig, daß anderswo der Eindruck erweckt wird, die Autoren sprächen sich zugunsten der Kernenergie aus, aber womöglich halten sie sich auch deswegen merklich zurück, weil sie fürchten müßten, daß darin ein innerer Widerspruch erkannt wird.

Ebenso irritiert mich, daß die Autoren beklagen, daß inzwischen der Großteil der Produktion von Solaranlagen nach Asien verschwunden ist. Ich wäre davon ausgegangen, daß das eine Folge der Marktwirtschaft ist, die die Autoren so vehement befürworten. Die Produktion wandert in einer Marktwirtschaft dorthin, wo sie am billigsten ist. Sollte das etwa nicht erwünscht sein?

Zu 13) Der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland ist beschlossen und wird umgesetzt

Hier drückt die Überschrift leider das Gegenteil der Aussage des Textes aus, eine eigenartige Konstruktion. Besser hätte die Überschrift gelautet: "Keine Verdammung der Kernenergie".

Zur Verdammung der Kernenergie gibt es ja auch überhaupt keinen Grund, nicht wahr? Zudem erwirbt sich Deutschland immer mehr Expertise in der Lagerung von radioaktiven Abfallstoffen, und im Rückbau vor kerntechnischen Anlagen, die vor allem darauf hinaus laufen, daß alles viel schwieriger, unsicherer, langwieriger und teurer ist als ursprünglich angenommen. Da können wir inzwischen wirklich auf einen reichhaltigen Schatz an Erfahrung zurückgreifen, das sollte keineswegs verdammt werden.

Zu 14) Die Fusionsenergieforschung als Spitzenforschung und Option für eine zukünftige Energieversorgung

bietet nach der Kernspaltung eine neuerliche Gelegenheit, zu studieren welche Problemstoffe als Abfall dieser Großtechnologie auf uns zukommen, da bin ich selber gespannt. Ich sehe eine gute Chance daß aus solchen Anlagen, sollten sie jemals funktionieren, höchst interessante Substanzen als Nebenprodukte herauskommen, von denen man erst noch sehen muß was man mit ihnen anstellen kann bzw. muß.

Zu 15) Keine Verdammung moderner konventioneller Energieerzeugung

Verdammung und Verteufelung wird von den Autoren des Papiers konsequent abgelehnt, das sollte inzwischen klar geworden sein. Sie unterstreichen damit ihren antiideologischen Ansatz, es wäre aber besser gewesen, wenn sie noch kurz erklärt hätten, wie sich eine Befürwortung fossiler Energieträger mit dem Ziel einer "umweltschonende[n] Energienutzung" verträgt, denn die Logik dürfte nicht allen Lesern gleich transparent sein.

Zu 16) Weniger Staat, mehr soziale Marktwirtschaft

Auch hier hätte ich mir eine klarere Sprache gewünscht. Statt "invasiver" staatlicher Maßnahmen werden "marktwirtschaftliche Prinzipien und Steuerungsinstrumente" gefordert, es wird aber versäumt darauf hinzuweisen was damit gemeint ist. Es ist mir nicht ganz klar wie der Staat steuern soll ohne einzugreifen. Wie sieht eine nichtinvasive staatliche Steuerung in der Praxis aus? Und wohin soll gesteuert werden, wenn man doch eigentlich den Markt sich selber regeln lassen will?

Es werden einige bisherige staatliche Maßnahmen genannt, die "einer verschärften Prüfung unterzogen werden" sollen, ohne einer Erklärung, nach welchen Kriterien da geprüft werden soll, und von wem. Man hat den Eindruck, die genannten Maßnahmen würden für schlecht befunden, aber warum, bzw. wenn schon klar ist daß sie schlecht sind, dann hat doch wohl die Prüfung schon stattgefunden? Und schließlich, welche Alternativmaßnahmen wären in den Augen des Berliner Kreises besser? Oder geht es einfach darum, nichts zu tun und den Markt sich selbst zu überlassen, also gar nichts zu steuern?

Es hätte der Verständlichkeit des Textes sehr gut getan wenn man hier konkret geworden wäre.

Zu 17) Konzept eines Preises für Treibhausgasemissionen (oder eine Besteuerung) sinnvoll

Dieses Kapitel kann man als eine Befürwortung des seit 2005 geltenden EU-Emissionshandels deuten, aber es fehlt wiederum die textuelle Klarheit. In ihrer Allgemeinheit sind die Aussagen des Berliner Kreises hier durchaus zu befürworten, aber man hätte sich gewünscht, daß sie sich dazu äußern, was damit konkret gemeint sein soll.


Insgesamt gesehen kann die stellenweise mangelnde Klarheit und Deutlichkeit nicht darüber hinweg täuschen, daß hier der Berliner Kreis seine herausragende Expertise im Bereich Klimawandel und Energiepolitik unter Beweis gestellt hat, ein starkes Signal in den laufenden Wahlkampf hinein. Wie sehr sich der Kreis dabei um eine unideologische, sachlich nüchterne und faktenbasierte Herangehensweise bemüht hat, wird z.B. im Vergleich mit dem fünften Sachstandsbericht des IPCC deutlich (Englisch, 10 MB pdf). Lasst Euch nicht von der Länge des Textes abschrecken, es gibt eine "Summary for Policymakers" am Anfang, die schon das Wesentliche beinhaltet (kein Politiker würde freiwillig 150 Seiten lesen. Von Trump wurde schon Anfang Februar kolportiert, er wolle seine Memos höchstens eine Seite lang mit höchstens 9 Stichpunkten. Manche deutschen Politiker tendieren in die gleiche Richtung).

Was können wir daraus also zusammenfassend mitnehmen? Aus meiner Sicht dies:
  • Traut nicht den Klimaforschern, die sind politisch/ideologisch motiviert und veranstalten einen Weltrettungszirkus. (Mal ehrlich: Haben Wissenschaftler denn irgendeine Ahnung von irgendwas? Verglichen mit Politikern?)
  • Die Politiker aus dem Berliner Kreis kennen sich in der Sache viel besser aus, gehen mit dem Thema völlig unideologisch um, und haben darum die besseren Antworten.
  • Macht Euch keine Sorgen um das Klima, man braucht eigentlich gar nichts zu tun, die Sache wird wahrscheinlich für uns sogar positiv ausgehen, und wir sparen uns das Schneeschippen.
  • Der Atomausstieg war überhastet. Und gleich nochmal, weil's so weh getan hat: Überhastet. Grundlos. Rein bloß wegen der Ideologie. So, das mußte einfach raus. Blödes grünes Gutmenschenpack...

Sonntag, 16. April 2017

Die Ja-Sager

Die Türken haben mehrheitlich für das neue Präsidialsystem gestimmt, und damit ihren Präsidenten Erdogan quasi zum Monarchen gemacht. Erdogan selbst glaubt offenbar, damit Deutschland und etlichen weiteren westlichen Ländern eine "Lektion" erteilen zu können. Ich finde das Ergebnis aber ganz gut. Überrascht? Laßt es mich erklären.

Ich finde, diese Entscheidung ist gut für Europa. Nachdem man jahrzehntelang mit der Türkei wegen einem eventuellen EU-Beitritt herumverhandelt hat, ohne Nägel mit Köpfen zu machen, entfällt jetzt die Notwendigkeit zu fortgesetzter Heuchelei. Es ist schon lange klar, daß man die Zustimmung für diesen Beitritt weder unter den Regierungen noch unter den Wählern der bisherigen EU-Länder zusammen bekommen würde. Das kann man bedauern, aber es ist so. Die Entscheidung in der Türkei macht es leichter, das jetzt auch offen einzugestehen. Ich hoffe daß das jetzt auch zügig passiert.

Das hat natürlich auch mit der Religion zu tun. Es gibt unter den EU-Ländern diverse, die ein muslimisches Land nicht in der EU sehen wollen. Und unter der Bevölkerung ist es in einigen Ländern ebenso. Gut finde ich das selbstredend nicht, denn es zeigt welchen Einfluß religiöse Bigotterie immer noch auf die Politik auch in der EU hat, aber das Problem existiert nun einmal, und wie man in den letzten Jahren gesehen hat wird es duch das Ignorieren eher schlimmer.

Und auch in der Türkei selbst ist die religiöse Orientierung der Politik ein Hindernis für einen EU-Beitritt. Wer wie Erdogan selbst so intensiv mit der religiösen Karte spielt disqualifiziert sich auch von seiner Seite für einen EU-Beitritt.

Also laßt uns das EU-Beitritts-Projekt begraben. Klar und deutlich. Mit Erdogan wird das nichts mehr, und ob es nach Erdogan nochmal was werden kann, muß man dann sehen. Bis dahin wird noch viel Wasser den Bach runter laufen, und in welchem Zustand dann die EU sein wird ist ja ebenfalls ziemlich offen. Einstweilen hat man damit bessere Chancen, sich unter den momentanen EU-Mitgliedsländern wieder halbwegs zusammen zu raufen. Da gibt's schon genug Probleme.

Es könnte sogar für die Flüchtlingspolitik gut sein, weil es klar macht, daß man dieses Problem in der EU selber lösen muß, und es nicht an die Türkei delegieren kann. Wir haben ja schon in den letzten Monaten zur Genüge gesehen welche diplomatischen Erpreßbarkeiten man sich damit einhandelt. Viele Flüchtlinge kommen inzwischen eh wieder auf anderen Wegen in die EU, z.B. über Libyen. Dagegen hilft ein Pakt mit der Türkei sowieso nichts.

Und dann wäre da noch die NATO. Man muß sich fragen ob man in Deutschland bereit ist, im Ernstfall deutsche Soldaten für Erdogan's Herrschaft kämpfen und ggf. sterben zu lassen. Ich wäre sehr dafür, dort ebenfalls für klare Verhältnisse zu sorgen, und zwar bevor der Ernstfall eintritt. Der Ernstfall, das wäre die Ausrufung des Bündnisfalls durch den NATO-Rat. Das hat zwar nicht unmittelbar den Eintritt der Bundeswehr in Kampfhandlungen zur Folge, das müßte nämlich vom Bundestag beschlossen werden. Aber wie steht die NATO da, wenn die Türkei angegriffen würde und die NATO tut nichts, obwohl Erdogan Unterstützung einfordert? An dem Punkt müßte sich jedes NATO-Land die Frage stellen, was die NATO-Mitgliedschaft im Ernstfall noch wert wäre. Es könnte gut sein daß so etwas der Anfang vom Ende der NATO wäre.

Wenn man die Türkei aus der NATO komplimentiert, dann wäre das natürlich ein Triumph für Putin. Ich finde, das kann man verschmerzen, selbst wenn sich die Türkei dann an Russland annähern würde. Ich finde, Putin und Erdogan würden gar nicht schlecht zusammen passen. Vielleicht würden sich die beiden Autokraten ja ganz gut vertragen. Wir bräuchten uns auch nicht so sehr über den Verlust grämen, denn nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sind ja einige Staaten aus dem Militärbündnis der Sowjets, dem Warschauer Pakt, zur NATO übergelaufen. Da kann man auch mal den umgekehrten Vorgang verschmerzen.

Man müßte dann die Luftwaffenbasis Incirlik aufgeben, aber dafür findet sich bestimmt ein Ersatz. Auf Zypern gibt's z.B. schon lange große englische Militärbasen, ich denke die könnten einspringen. Sowieso würde man wohl vorsichtshalber mehr NATO-Militär in Griechenland stationieren, wenigstens so lange bis sich der Staub gesetzt hat.

Wir werden uns allerdings auf einen deutlichen Zustrom von Türkei-Flüchtlingen einstellen müssen. Viele derjenigen Leute, die mit Nein gestimmt haben, und/oder einer pseudo-monarchistischen, autoritären Staatsform wenig abgewinnen können, werden wohl raus wollen und sich nach Westeuropa orientieren. Das wird vermutlich der besser ausgebildete, eher mit unseren Wertvorstellungen harmonierende Teil der Leute sein. Die Städter eher als die Landeier. Viele von denen wird man hier brauchen können. Wir sollten sie auch nicht mies behandeln. Die Frage ist eher, wie man die Erdogan-Verehrer unter den Türken hierzulande dazu bringen kann, in die Türkei zurück zu gehen. Ich finde die könnten ruhig mal konsequent sein und ihren Ansichten auch entsprechende Taten folgen lassen. Das sollte auch zügig passieren, so lange die Begeisterung für Erdogan noch anhält.

Insofern finde ich auch, daß sich die Türken mit dieser Abstimmung vor allem selbst eine Lehre erteilen. Die Einsicht, was sie da getan haben, und was daraus folgt, wird vielen erst allmählich dämmern, so wie kürzlich den Briten in der Folge der Brexit-Abstimmung. Ob da nicht irgendwann eine gesteigerte Erkenntnis heraus kommt, was Demokratie bedeutet und was man davon hat?

Erdogan kann sich jetzt jedenfalls in einer Weise bestätigt sehen, die ihn für den Rest seiner Lebenszeit an der Macht halten dürfte. Es wird während seiner verbleibenden Lebenszeit keinen Kandidaten geben, der ihn beerben könnte. Dafür wird er schon selber sorgen, die Mittel hat er dafür alle in der Hand.

Mir fällt dafür das Beispiel von Robert Mugabe ein, der seit fast 30 Jahren der Präsident von Simbabwe ist. Auch da gibt es keinen Kandidaten, der ihn ersetzen könnte, so daß Mugabe offenbar plant, trotz seines fortgeschrittenen Alters von dann 94 Jahren im kommenden Jahr wieder zur Wahl anzutreten. So ähnlich sehe ich das für Erdogan ebenfalls kommen. Er wird zwar weiterhin Wahlen abhalten lassen, aber gleichzeitig dafür sorgen, daß sie zu seinen Gunsten ausgehen. Die Türken werden warten müssen, bis die Natur das Problem löst, denn sie werden ihn realistischerweise nicht wieder durch eine Wahl loswerden können. Höchstens durch einen Aufstand, was nicht ohne Blutvergiessen vonstatten gehen wird.

Aber das ist ja nicht unser Problem in der EU. Im Gegenteil werden sich hier die Demokratie-Anhänger sammeln, eben auch aus der Türkei, was der EU durchaus gut tun könnte. Auch für die hiesigen Wahlen bin ich guter Dinge. Wir haben zwar auch hierzulande zu viele Leute, die von einem autoritären Regime träumen, aber wenn die mit ansehen müssen, was dabei in der Praxis heraus kommt, kommen sie hoffentlich auf neue Gedanken. In dem Fall wäre es tatsächlich eine Lektion für Deutschland und andere EU-Länder. Ein gutes schlechtes Beispiel sozusagen.

Und es wird selbstverständlich den Bach runter gehen in der Türkei, ich denke das kann man einigermaßen klar sagen. Nicht nur freiheitsmäßig, sondern auch wirtschaftlich. Der Tourismus wird sich lange nicht auf den Stand erholen, den er mal hatte. Die gespaltene, zur Gewalt neigende Gesellschaft wird fortgesetzt großen Aufwand an staatlicher Repression zur Folge haben, und das ist nicht nur teuer, es lähmt auch den unternehmerischen Tatendrang. Bürokratie und Korruption werden wuchern, und die Bildung wird sicher nicht in Richtung eigenständiges Denken arbeiten, sondern eher religiös-dogmatische Verblödung produzieren. Wer was auf der Pfanne hat, der geht ins Ausland. Erdogan wird fett mittendrin sitzen und sich bereichern. Siehe Simbabwe.

Aber das türkische Volk hat es demokratisch und mehrheitlich entschieden, also sollten wir ihnen die Erfahrung nicht streitig machen, die daraus folgt. Auch wenn die Abstimmung nicht ganz fair war, wie man ja allgemein weiß, so wäre es doch nicht so weit gekommen, wenn genug Türken ein Interesse an demokratischen Verfahren und Verhältnissen gehabt hätten. Es kann kein Zweifel bestehen, daß genügend Türken ihrem Präsidenten nur zu gern die Macht überlassen, und sich anscheinend keine großen Gedanken darüber machen, wie man sie ihm im Ernstfall wieder nehmen kann, falls das passiert, was bei solcher Machtfülle immer irgendwann passiert: Despotismus. Es gilt auch hier das Bon-Mot: "Macht korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut."

Sehen wir's also positiv: Wir im sog. "Westen" können nicht nur etwas daraus lernen, wir bekommen auch die Möglichkeit, uns ehrlicher zu machen und für klarere Bündnis-Verhältnisse zu sorgen. Und die Türken können ebenfalls etwas daraus lernen, auch wenn es lange dauern wird, bis sie die Gelegenheit bekommen, daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Jetzt müßte man nur noch eine Lösung für die Kurden finden.