Samstag, 27. März 2010

Lies, damn lies, and measurements

Wie einfach wäre es doch wenn Alle glauben würden, die Ohren seien die besten Meßgeräte. Das würde einen Haufen Aufwand mit der ganzen Meßtechnik sparen. Die Entwicklung von Geräten würde deutlich billiger: Ein Lötkolben, eine Kiste voller Bauteile und ein guter Gehäusebauer würden reichen. Ok, vielleicht nicht ganz, aber fast...

Leider gibt es aber noch immer Leute, die auf Messungen Wert legen, und die Nase rümpfen wenn sie keine Diagramme sehen, die sie interpretieren können. Solche Messungen haben die Aura einer objektiven, unbestechlichen Wahrheit. Ein gestandener Audiophiler weiß, daß unbestechliche Wahrheit nur in seiner eigenen unmittelbaren Wahrnehmung zu finden ist. Es gibt aber noch zu wenige gestandene Audiophile, so daß es einen Bedarf für Messungen gibt, die diese audiophile Wahrheit auch den Anderen vermitteln können.

Ich will daher hier einmal die Methoden zusammenfassen, die man anwenden kann, um zu Messungen zu kommen die man als Beweis für audiophile Grundüberzeugungen präsentieren kann. Wie sich zeigen wird, werden diese Methoden schon seit längerem praktisch angewandt und erfreuen sich eines gewissen Erfolges. Anwendungen derselben finden sich ebenso in der Fachpresse wie in Foren, in Hersteller-Veröffentlichungen wie im Handel.

Welchen Aufwand man dabei betreiben muß bemißt sich vor allem an der Zielgruppe, die man damit ansprechen will. Die wichtigen Fragen dabei sind:
  • Welche Antwort würde der Leser gerne sehen? Wohin zieht ihn sein Wunschdenken?
  • Wie loyal ist der Leser? Wie groß sind seine Hemmungen, Fehler oder Betrug zu unterstellen?
  • Wie vorgebildet ist der Leser? Über welche Fähigkeiten zur Kritik und zur Plausibilitätskontrolle verfügt er?
  • Wie wichtig ist die Angelegenheit dem Leser? Welchen Aufwand ist er bei der Beschäftigung mit dem Thema bereit zu treiben?
Falls es die Zielgruppe hergibt, kann man es sich auch ziemlich einfach machen. In Fällen, wo die Leser weitgehend loyal eingestellt sind und das Ergebnis ohnehin ihren Erwartungen entspricht, kann man sogar so weit gehen, eine Messung nur vorzutäuschen. Erfundene Daten werden auch im normalen Wissenschaftsbetrieb manchmal in Veröffentlichungen benutzt, und je nachdem wie gut erfunden sie sind, kann es sogar eine ganze Weile dauern bis der Betrug auffällt.

Die erste Methode lautet daher: Wenn es die Zielgruppe gestattet, dann mach Dir's einfach und arbeite mit frei erfundenen Messungen.

Die mehrheitliche Loyalität der Leserschaft spielt dabei eine sehr wichtige Rolle, denn falls einmal ein Kritiker auftauchen sollte, dann bildet diese loyale Leserschaft ein wichtiges Bollwerk gegen die Kritik, denn sie wird dafür sorgen daß der Kritiker einen schweren Stand hat. Man wird ihm Unverschämtheit und Ungezogenheit vorwerfen, und generell seine Qualifikation und Motivation in Frage stellen.

Wenn unter der Leserschaft Leute sind, die Sachverstand haben, und/oder ihr Wunschdenken geht nicht in die richtige Richtung, dann kann diese einfache Methode zu riskant sein. Es ist dann besser man macht tatsächlich Messungen, und nutzt stattdessen seine Freiheiten bei der Präsentation und bei der Interpretation derselben. Ich will zunächst bei der Präsentation bleiben und entsprechende Methoden vorstellen, bevor ich dann dasselbe für die Interpretation tue.

Bei der Präsentation geht es darum, Meßergebnisse so darzustellen, daß nach Möglichkeit der Leser auf die gewünschte Interpretation von selbst kommt, oder daß wenigstens diejenige Interpretation, die wir ihm sodann anbieten, für ihn plausibel aussieht.

Ein sehr wichtiges Mittel dazu ist bei Diagrammen die Skala der Achsen. Durch entsprechende Skalierung kann man unbedeutend kleine Schwankungen zu beeindruckenden Gebirgen machen, und große Schwankungen harmlos aussehen lassen. Im einfachsten Fall bietet man keine nachvollziehbare Achsenskalierung und verläßt sich ganz auf die optische Wirkung der Kurve. Überraschend viele Leute akzeptieren das und behalten das Gefühl eines objektiven Nachweises zurück.

Meist ist es aber besser man gibt die Achsenskalierung an, und verläßt sich darauf daß die Leser nicht beurteilen können, ob sie zweckmäßig ist oder nicht, also ob der dargestellte Wertebereich tatsächlich interessante Größenordnungen abbildet.

Die zweite Methode ist also: Sei kreativ bei der Achsenskalierung und -beschriftung. Der optische Eindruck der Kurve ist das Wichtige. Die Achsenbeschriftung wird nur von wenigen Lesern verstanden, aber ihr Vorhandensein suggeriert Seriösität.

Wenn es darauf ankommt, mehrere Diagramme zum Vergleich nebeneinander zu stellen, dann sollte man sich keine Blöße geben und darauf achten, daß auch die Achsenbeschriftungen vergleichbar sind. Unterschiedliche Achsenbeschriftungen bei parallelen Diagrammen wirken sehr unseriös, auch bei weniger kritischen Lesern. Wenn sich dadurch unvorteilhafte Kurven ergeben sollte man eher die Meßbedingungen variieren, denn die Leser werden instinktiv davon ausgehen, daß bei parallelen Diagrammen auch jeweils gleiche Meßbedingungen vorlagen. Man kann es sich folglich sparen, das explizit klarzustellen, und vermeidet so auch eine direkte Lüge.

Dritte Methode: Wenn beim Vergleich von Kurven geschönt werden soll, dann sollte man das nicht über unterschiedliche Achsenskalierungen tun, sondern über unterschiedliche Meßbedingungen, über die man am besten kein Wort verliert.

Welche Meßbedingungen dabei am besten zu variieren sind, hängt natürlich vom konkreten Fall ab. Ob es sich um Pegel, Impedanzen, räumliche Unterschiede, oder unterschiedliche Einstellungen der Meßapparatur dreht, es gibt normalerweise eine Fülle von Parametern, die bei Messungen einfach stillschweigend als gegeben und für jede Messung gleich angenommen werden müssen, daß sich daraus viele Möglichkeiten der Einflußnahme auf ein Ergebnis bieten.

Nur ein Beispiel: Bei der Messung des Frequenzgangs von Lautsprechern hängt der optische Eindruck der Kurve sehr stark davon ab welche glättenden Filter man bei der Messung einsetzt. Eine Glättung mit Terzfilter produziert wesentlich glattere und "ruhigere" Kurven als es schmalbandige Filter tun. Der Lautsprecher selbst bleibt dabei unverändert.

Man nutzt dabei die Tatsache, daß man kaum eine vollständige Beschreibung der Einstellungen der Meßapparatur abgeben kann, weil das viel zu umfangreich wäre. Selbst bei Artikeln, die nach streng wissenschaftlichen Kriterien verfaßt werden, toleriert man daher daß die Meßbedingungen nicht vollständig angegeben werden, sondern daß die wesentlichen Umstände der Messung nachvollziehbar sind und der Rest harmlos ist. In Fällen, wo es normierte Meßbedingungen gibt, wird auch oft angenommen daß normgerecht gemessen wurde.

Dazu kommt, daß wenige Leute überblicken, welche Auswirkungen auf das Meßergebnis solche Unterschiede in den Meßbedingungen im konkreten Fall haben können. Entsprechend schwierig wird es für sie auch sein, in den Meßergebnissen nach Anzeichen für solche Manipulationen zu suchen. Wie immer es auch sei, was nicht explizit angegeben ist kann zum eigenen Vorteil manipuliert werden, ohne daß man von davon reden könnte daß hier jemand gelogen hätte.

Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Präsentation der Messungen ist das, was man nicht präsentiert. Wenn man hundert Messungen hat, die schlecht aussehen, und eine die gut aussieht, dann präsentiert man die eine gute und verliert kein Wort über den Rest.

Vierte Methode: Zeige nur das was für Deine Interpretation spricht, nicht das was dagegen spricht.

Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise sind die Oszilloskop-Bilder vom Ausgang eines D/A-Wandlers, wo die Reaktion auf Rechteckimpulse gezeigt wird. Die Rechteck-Impulse sind künstlich digital erzeugt, und stillschweigende oder auch ausdrückliche Aussage ist, daß der bessere Wandler so einen Impuls auch möglichst rechteckig wiedergeben müsse. Ein korrekt aufgebauter Wandler A zeigt dabei Überschwinger an den Impulsflanken. Ein Wandler B ohne korrektes Rekonstruktionsfilter dagegen zeigt ein fast ideales Rechteck am Ausgang. Der korrekte Wandler sieht also hier schlecht aus.

Was man nicht gezeigt bekommt, ist der Ausgang der Wandler bei einem Sinussignal. Der korrekte Wandler A gibt es auch korrekt sinusförmig aus, während der Wandler B ein treppenförmiges Signal ausgibt.

Wer nur das Rechteck sieht wird sich denken: Der Wandler A macht's falsch, der Wandler B richtig, also ist B besser. Würde er nur das Sinus-Beispiel sehen, käme er zum umgekehrten Schluß. Nur derjenige, der beide Beispiele kennt, kommt zum ausgewogeneren Schluß, nämlich daß man sich aussuchen kann bzw. muß, welche Art von Signal der Wandler korrekt wiedergeben können soll, also ob die tatsächlichen Signale die der Wandler verarbeiten soll eher wie Rechtecke oder eher wie Sinusse sind. Diese Frage führt zu ganz anderen, tiefer liegenden Fragen, nämlich nach der physikalischen Natur von Schall und spezieller von Musiksignalen, und das Ergebnis dieses längeren Exkurses wäre es, daß hier eben der Sinus korrekt reproduziert werden muß und nicht das Rechteck.

Das alles kann vermieden werden indem man solche weiterführenden, ausgewogeneren Gedanken erst gar nicht provoziert. Man zeigt nur das Rechteck-Beispiel, und der gewünschte Schluß ergibt sich beim Leser von selbst.

Hier sind wir am Übergang zwischen Präsentation und Interpretation. Zweck der Präsentation ist ja, daß der Leser die gewünschte Interpretation selbst vornimmt, am besten ohne daß er sich dessen überhaupt bewußt wird, daß er interpretiert. Im obigen Beispiel wird ein Rechteck mit Überschwingern unwillkürlich als schlechtes Zeichen interpretiert, aber bei näherer Untersuchung der Sachlage ist es das gar nicht. Im Gegenteil ist ein schön eckiges, sauberes Rechteck ein Zeichen fehlender Bandbegrenzung, die aber im gegebenen Fall nötig gewesen wäre. Mit dem passenden Sachverstand könnte man also auch das Beispiel mit dem Rechteck allein richtig interpretieren, aber diese Interpretation läuft gegen den Augenschein.

Eine gut manipulierte Messung präsentiert die richtigen, unverfälschten Daten auf eine Art und Weise, die das Richtige falsch und das Falsche richtig aussehen läßt. Da der Irrtum erst im Hirn des Lesers entsteht, kann einem auch kein Meßbetrug nachgewiesen werden. Um gegen den Irrtum gefeit zu sein, müßte der Leser entweder über genügend eigenen Sachverstand verfügen, oder man müßte ihm die entsprechenden Grundlagen in einer ausreichend ausgewogenen Form vermitteln. Das ist aber selten der Fall. Sogar in Kreisen von ausgewiesenen Fachleuten kommt es vor, daß man sich vom Augenschein zu falschen Schlüssen verleiten läßt, die man bei genauerer Überlegung auch aus dem gebotenen Datenmaterial als irrig hätte erkennen können.

In diesem Zusammenhang ist auch der Umgang mit Fehlmessungen (bzw. Meßfehlern) zu sehen. Wenn das Gewünschte heraus kommt dann kann die eigene Messung nicht falsch gewesen sein, das ist die Grundhaltung. John Curl hat z.B. mal seltsame Meßergebnisse bei Kabelmessungen gefunden, und daraus auf das Vorhandensein von "Mikrodioden" in Kabeln geschlossen, die angeblich die von ihm gemessenen Verzerrungen produzieren. Wenn man sich ansieht wie hartnäckig er dieses Ergebnis über die Jahre verteidigt hat, obwohl bald klar wurde daß sein Meßinstrument ein Problem gehabt haben mußte, spricht Bände über dieses Phänomen. Die gleiche Hartnäckigkeit ist es auch, die noch heute dazu führt daß dieses Gerücht über die Mikrodioden nicht aus der Welt zu schaffen ist, und die von ihm gezeigten Meßkurven kursieren noch heute als angeblicher Kabelklang-Beweis. Die dem entgegen stehenden Kontrollmessungen von anderen Fachleuten mit besserer Ausrüstung sind weit weniger bekannt und werden natürlich von Curl selbst nicht weiterverbreitet.

Auch wenn eine gute Präsentation der bessere, weil unauffälligere Weg ist, die Interpretation des Lesers in die gewünschten Bahnen zu lenken, so wird man dennoch oftmals die gewünschte Interpretation auch etwas direkter anbieten wollen oder müssen. Insbesondere bei einer sehr uninformierten Leserschaft, oder einer sehr denkfaulen Leserschaft, wird man auf diese Weise weiter kommen. Diese Zielgruppe bräuchte schon sehr eindringliche Diagramme, um von selbst zum gewünschten Ergebnis zu kommen, und die kann man oft nicht so problemlos fabrizieren. Also erzählt man ihnen eben explizit, wie die Bilder zu interpretieren sind.

Auf diese Weise kann es sogar gelingen, aus Meßwerten die gewünschten Ergebnisse zu ziehen, die damit eigentlich gar nichts zu tun haben. Anders gesagt, man interpretiert in die Sache eine Kausalität hinein, die gar nicht vorhanden ist. Man sagt: "Diese Kurve hier ist krumm, deswegen klingt das Gerät schlecht." Die Krummheit der Kurve ist dabei vielleicht gar nicht umstritten, das Problem besteht darin ob der Zusammenhang zwischen der Kurve und dem Klang besteht. Dieser Zusammenhang besteht aber selbst dann nicht automatisch, wenn das Gerät tatsächlich schlecht klingen sollte.

Es ist erstaunlich wie schnell die allermeisten Leute einen kausalen Zusammenhang zwischen zwei Phänomenen annehmen, die einfach nur in ihrer Wahrnehmung zusammen getroffen sind. Das steht in keinem Verhältnis zur Schwierigkeit, die man hat wenn man solch eine Ursache-Wirkung-Beziehung tatsächlich nachweisen will. Ebenso erstaunlich ist es wie einfach man sich diese menschliche Tendenz zunutze machen kann. Es hat offenbar etwas damit zu tun daß der menschliche Geist danach strebt, Sinn und Folgerichtigkeit in seiner Umwelt zu suchen. Man vermutet so Ursachen und Zusammenhänge hinter natürlichen Ereignissen, die oft keine besonderen Zusammenhänge oder Gründe haben. Bei den kürzlich -- zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung -- gehäuft aufgetretenen schweren Erdbeben kam ja auch schnell der Verdacht auf es habe etwas mit dem Klimawandel zu tun, sei also mittelbar vom Menschen selbst verursacht. Einen solchen Zusammenhang tatsächlich nachzuweisen ist aber ein sehr viel schwierigeres Geschäft, und man müßte eigentlich beim Ziehen solcher Schlüsse sehr vorsichtig sein. Trotzdem werden bei vielen Menschen solche Spekulationen schnell zur Beinahe-Gewißheit, wenn sie zu den restlichen Ansichten passen, also ein entsprechendes Weltbild harmonisch ergänzen.

Im Bereich Hifi wird diese Situation gerne genutzt, die Voraussetzungen sind günstig. Besonders das audiophile Weltbild mit der Betonung der eigenen Wahrnehmung führt dazu daß Interpretationen, die zumindest den Anschein erwecken als würden sie mit der eigenen Wahrnehmung harmonieren, bereitwillig übernommen werden, ohne daß man sich über die Kausalität große Gedanken zu machen scheint. Man kann hier sogar erfolgreich Interpretationen anbieten, die so absurd sind, daß es mit nur wenig Nachdenken eigentlich offensichtlich sein müßte.

Fünfte Methode: Biete Interpretationen an, die in das Weltbild der Zielgruppe passen. Ein kausaler Zusammenhang zu den Messungen braucht dabei überhaupt nicht zu bestehen. Es kann sogar funktionieren wenn die Messungen bei Licht betrachtet die Interpretation klar widerlegen.

Als konkretes Beispiel verweise ich auf den Artikel von Goetze im Studio-Magazin, über den ich vor geraumer Zeit hier geschrieben habe. Dort werden Messungen vorgestellt, die zeigen daß das getestete Zubehörteil keine meßtechnischen Auffälligkeiten zeigt, die auch nur entfernt hörbare Proportionen haben. Trotzdem behauptet der Autor, damit klar hörbare Effekte nachgewiesen zu haben. Im Falle der Stereoplay-Verstärkermessungen werden ebenfalls Kausalitäten unterstellt, die weder nachgewiesen noch plausibel sind, wenn man es bei Licht betrachtet. Bei der damit angesprochenen Zielgruppe spielt das allerdings keine Rolle. Die Glaubwürdigkeit ergibt sich da aus der Verträglichkeit mit dem eigenen Weltbild. Beide Beispiele zeigen wie weit man bei diesen Manipulationen gehen kann, bevor man die Toleranz- oder Loyalitätsgrenze seiner Leserschaft überschreitet.

Eine weitere Methode wird daraus ebenfalls ersichtlich: Wiederhole Deine Interpretation, und auch die Argumentation mitsamt der Diagramme. Verschweige und ignoriere ggf. die Kritik daran. Bei der Leserschaft wirkt die Präsenz der Argumentation schwerer als die Stichhaltigkeit.

Wer immer wieder die gleiche Lüge verbreitet wirkt irgendwann glaubwürdig, schon weil er so hartnäckig ist. Zudem müssen die Kritiker die Stichhaltigkeit nicht nur einmal, sondern sehr oft widerlegen, und wenn man es schafft, das auszusitzen, dann wird im günstigsten Fall die eigene Argumentation zur Urban Legend, zu etwas was geglaubt wird weil es allgegenwärtig ist.

Solche Urban Legends können sich über Jahrzehnte halten und den Status von allgemein bekannten Wahrheiten annehmen, wenn sie ein verbreitetes Wunschdenken unterstützen. Es ist noch gar nicht so lange her daß man Frauen hierzulande den Zugang zu Bildungseinrichtungen verweigert hat mit der Überzeugung, daß sie zu höherer Bildung ihrer Natur nach weniger befähigt seien als Männer. Ein großer Teil der Bevölkerung, einschließlich vieler Frauen, hielt diese Ansicht für selbstverständlich. Wir haben diesen Irrglauben inzwischen mehrheitlich überwunden, aber es gibt Länder und Kulturen die das noch vor sich haben.

Solche verbreiteten Irrtümer, die in der Art von Urban Legends weiter getragen werden, gibt's im Bereich Hifi jede Menge, und wenn man es schafft sie sich zunutze zu machen errichtet man für seine Kritiker fast unüberwindliche Hürden, denn man kann es so aussehen lassen als argumentierten sie gegen das Selbstverständliche -- und so etwas tut nur jemand der nicht ganz bei Trost ist.

Aus einer Sachfrage kann man so eine Frage von Mehrheiten machen. Recht hat nicht derjenige der die besseren Argumente hat, sondern recht hat die Masse.

Damit verwandt ist die siebte Methode: Setze auf das kurze Gedächtnis und die Faulheit der Leser.

Man sollte daher nicht vor Versuchen der Geschichtsfälschung zurückschrecken. Man kann problemlos so tun als hätte man das was man gerade sagt schon immer so gesagt, auch wenn man seine Aussage in Wirklichkeit um 180 Grad gedreht hat. Wenn man das nicht allzu offensichtlich macht, dann kommt man damit durch, weil kaum jemand die Energie besitzen wird, die tatsächlichen Vorgänge nachzuzeichnen.

Die letzte Methode, die ich hier vorstellen will, hängt mit dem Eindruck der Glaubwürdigkeit zusammen, der wichtig ist um sich die Loyalität zu bewahren. Diese Glaubwürdigkeit kann man dadurch befördern, indem man sich als jemand präsentiert, der abgewogene Urteile trifft, als jemand der sich über das Sowohl-Als-Auch bewußt ist, sich von Extremen fern hält. Dabei können die tatsächlichen Aussagen durchaus geradezu schwachsinnig oder verrückt sein, es kommt nicht auf den Inhalt, sondern auf den Eindruck an.

Wer sich mit der Beurteilung des Inhaltes schwer tut, der wird sich zwangsläufig an diesen allgemeinen Eindruck halten, und die entsprechenden Binsenweisheiten in Anschlag bringen und sie als gutes Zeichen werten. Daß die Wahrheit immer in der Mitte liegt, daß es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis gibt, daß alle Messungen mit Meßfehlern zu kämpfen haben, daß alles nicht so einfach ist, daß der Teufel in den Details ist, daß letztlich das Gehörte entscheidet, undsoweiterundsofort. Nullaussagen von athmosphärischem Wert.

Letzte Methode: Tarne den Irrsinn in einer vernünftig aussehenden Verpackung.

Die Großmutter sieht vertrauenserweckender aus als der Wolf, und es gibt genügend Leser, die naïver sind als Rotkäppchen. Denen der Anschein einer Großmutter lieber ist als jeder beunruhigende Verdacht auf einen Wolf, und die sich darum nicht fragen warum die Großmutter so große Ohren hat.

Sonntag, 14. März 2010

Dummheit

"Im Kampf mit der Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal" (Friedrich Nietzsche)

Wer in Debatten mit Audiophilen verwickelt wird macht regelmäßig die Erfahrung, daß einer der Betreffenden sich beschwert man würde ihn für dumm, dämlich, bescheuert, beschränkt oder Ähnliches hinstellen. Dabei hat im Regelfall niemand so etwas behauptet. Im Gegenteil, oft bemüht man sich sogar explizit, diesen Eindruck zu vermeiden.

In den meisten Fällen geht es ja dabei um Behauptungen eines oder mehrerer Audiophiler, er/sie hätten etwas gehört was Andere nicht recht glauben können, oder was sie für eingebildet halten. Diese Zweifel, oder die Unterstellung, etwas könne auch eingebildet sein, wird vom Audiophilen direkt in den verkappten Vorwurf der Dummheit übersetzt. Und das obwohl man alles versucht hat, um klarzustellen, daß man solche Irrtümer und Einbildungen für völlig normal hält, für einen unvermeidlichen Bestandteil der menschlichen Wahrnehmung (also beileibe nicht bloß der audiophilen Wahrnehmung!). Es hilft nichts, was für den Einen eine Selbstverständlichkeit ist, das ist für den Audiophilen eine Beleidigung.

Flugs ist man dann von der Diskussion des eigentlichen Themas weggekommen, wo es um die Gründe für oder gegen die Glaubwürdigkeit der audiophilen Behauptung ging. Stattdessen findet man sich nun in der Lage wieder daß man lang und breit erklären muß warum keine Beleidigung ist was der Audiophile als Beleidigung empfindet. Da für den Audiophilen seine Empfindung wahrer ist als die Wirklichkeit, ist das natürlich zum Scheitern verurteilt.

In manchen Fällen ist das ein cleverer audiophiler Schachzug in einer Diskussion, in der man sowieso angefangen hat, schlecht auszusehen. Mit Dummheit hat das in solchen Fällen tatsächlich nichts zu tun, im Gegenteil, der Audiophile bringt seine Gegner in die mißliche Lage daß sie sich aus einer "virtuellen" Geiselnahme befreien müssen. Zur Geisel genommen wird da nämlich ihr Taktgefühl, das es eigentlich gebieten würde, freundlich und sachlich zu diskutieren. Es stellt sich meist auch ein beschwichtigender Reflex ein, ein Bestreben, den Eklat zu vermeiden und den Konflikt nicht auf die Spitze zu treiben. Wenn jemand eingeschnappt ist, dann redet man ihm ja normalerweise gut zu und versucht ihm zu erklären daß das alles eine Folge eines Mißverständnisses wäre, und durch einen anderen Blickwinkel würde sich das von selbst auflösen.

Bloß funktioniert das in den seltensten Fällen. Der andere Blickwinkel würde nämlich bedeuten, daß der Audiophile die Fehlerträchtigkeit seiner eigenen Wahrnehmung einsieht und akzeptiert. Für die meisten Menschen ist das wahrscheinlich kein Problem, für den Audiophilen aber ist das ein Unding, eine Unmöglichkeit, und zwar egal ob er nun ehrlich empört sein sollte oder ob er die Empörung aus diskussionstaktischen Gründen vorschützt. Die Fehlerhaftigkeit des Gehörs akzeptiert er höchstens als theoretische Möglichkeit für den Menschen im Allgemeinen, nicht aber für sich selbst im Konkreten.

Und damit sind wir dann doch wieder bei der Dummheit. Es hilft hier alle Diplomatie nichts: Die Vorstellung daß die Wirklichkeit so ist wie sie sich der eigenen Wahrnehmung darstellt, ist letztlich dumm. Im Grunde steckt also tatsächlich der Vorwurf der Dummheit im Raum, und das Gespür des Audiophilen trügt ihn in dieser Hinsicht nicht. Bloß besteht dieser Vorwurf nicht darin, daß es dumm wäre Unterschiede zu hören wo keine sind. Er besteht darin zu glauben die Sache müsse sich wirklich so verhalten wie man es wahrnimmt.

Wenn die Diplomatie hier sowieso nicht hilft, warum also nicht einfach offen die Wahrheit sagen? Ja, es geht um den Vorwurf der Dummheit. Natürlich steht er im Raum, was soll man da leugnen?

Nicht selten gibt's ja außer dem anscheinenden Glauben an die Unfehlbarkeit des eigenen Gehörs noch diverse weitere Anzeichen von Dummheit, die die Diagnose bestätigen. Regelmäßig auftretende Beispiele:
  • In der Argumentation warum ein bestimmtes Zubehörteil wirken soll wird ausgerechnet aus den Werbeschriften des Anbieters zitiert (nicht selten ohne Quellenangabe), als ob das irgendwelche Überzeugungskraft hätte. Einem Anbieter von sündhaft teurem Nippes die Prospekttexte unkritisch abzutippen ist so ungefähr das Dümmste was einem einfallen kann.
  • Die Tatsache daß es für eine bestimmte Sache viele Anbieter gibt wird als Beweis dafür genommen daß da etwas dran sein muß. Dann müßte auch an Astrologie, Penisverlängerungssalben und Wunderheilungen was dran sein. Man ist offenbar dumm genug nicht zu kapieren, daß der einzige und ausreichende Grund für die Existenz solcher Angebote der ist, daß damit Geld zu verdienen ist. Das Geld der Dummen.
  • Vollends dumm wird's, wenn sich diese Leute auch noch für glücklicher oder empfindungsfähiger halten als die Anderen. Mal abgesehen davon daß das auch wieder Einbildung ist, wäre das das Glück des Hans aus dem bekannten Märchen "Hans im Glück", dem von windigen Geschäftemachern zu ihrem Vorteil nach und nach sein Eigentum abspenstig gemacht wurde, und der dumm genug ist ihnen ihre Erklärungen abzukaufen.
Ich würde daher sagen daß man mit dem Problem offen und direkt umgehen sollte. Die Dummheit ist in der audiophilen Szene offensichtlich endemisch, und es gibt gegen die windigen Geschäftemacher die sich das zunutze machen nur dann eine Chance wenn man den Humus bekämpft auf dem ihre Geschäfte wachsen: Die Dummheit ihrer Kundschaft.

Was stört's da wenn darüber hin und wieder einer beleidigt ist?

Montag, 1. März 2010

Elaborat über einen 10Ω Widerstand

Diesmal geht's nicht um Audiophile. Die brauchen das nicht zu wissen weil sie ja alles hören. Es geht um einen mysteriösen Widerstand in manchen Verstärkerschaltungen. Mysteriös deswegen weil meist nicht erklärt wird wozu er eigentlich da ist, und warum er meistens 10Ω hat. Viele andere Verstärker haben den Widerstand gar nicht. Es scheint als sei entweder 0Ω oder 10Ω der richtige Wert, je nachdem. Je nach was?

Ein Beispiel wo dieser Widerstand vorhanden ist, findet sich im Selbstbau-Verstärker mit Namen SymAsym, von dem eine PDF-Datei mit der ganzen Aufbaubeschreibung hier zu finden ist. Auf der zweiten Seite dieses Dokuments findet man den Schaltplan (nicht erschrecken, sieht komplex aus, das ist aber für die Diskussion hier nicht wichtig). Das Korpus Delikti ist auf diesem Plan mit R5 bezeichnet, links unten.

Dies ist die Geschichte dieses Widerstandes.

Es ist nicht die Geschichte des SymAsym, und seine Erwähnung hier möchte ich weder im positiven noch im negativen Sinn verstanden wissen. Es ist ein Beispiel, weiter nichts, und es hat den Vorteil gut zugänglicher öffentlicher Dokumentation. Viele andere Verstärker haben so einen Widerstand auch, es ist also sicher kein Grund dafür den SymAsym herauszuheben.

Auch hat es nichts mit dem Widerstand zu tun, mit dem man die unsinnige Stereoplay-Messung aushebeln kann.

Es hat aber was mit dem unbekannten Wesen namens "Masse" zu tun, das ich kürzlich schon einmal zum Thema hatte. Wir haben's hier mit einer Art Fortsetzung dieses Artikels zu tun.

Für unsere Betrachtungen ist es sinnvoll, wenn man das ganze Gedöns im eigentlichen Verstärker ausblendet, und stattdessen nur die interessanten Teile der Schaltung zeigt. Ein Verstärker wie der SymAsym ist im Grunde nichts anderes als ein Operationsverstärker (OpAmp), genau so wie man ihn auch für kleines Geld als Chip kriegen kann, bloß daß er viel stärkere Lasten treiben kann. Für unsere Zwecke hier reicht es wenn wir den Verstärker einfach als idealen OpAmp ansehen, der beliebige Lasten treiben kann. Seine Innereien reduzieren sich so zum bekannten dreieckigen Symbol, und die entsprechend vereinfachte Schaltung sieht dann so aus:

Wer's nicht glaubt der überzeuge sich daß das in der Tat die gleiche Schaltung ist, bloß daß der größte Teil nun in dem OpAmp-Symbol (U1) verschwunden ist. Ich habe extra die Bauteilbezeichnungen gleich gelassen, damit's besser vergleichbar wird. Die verbliebenen Bauelemente habe ich so angeordnet daß es für unsere Betrachtungen hier praktischer ist.

Ein Symbol für die Signalquelle (V3) ist ebenfalls da, und auch für den Lautsprecher als Last (RL) und für die Stromversorgung (V1 & V2). Das Korpus Delikti hat den ihm gebührenden Platz, wo man schön sieht daß es sich um eine Verbindung (oder eher Trennung) von zwei Massen handelt. Rechts ist die Masse für den Ausgang der Schaltung, wo eine Seite des Lautsprechers angeschlossen ist, und links ist die Masse für den Eingang der Schaltung, auf die die Signalquelle bezogen ist.

In meinem erwähnten Blog-Artikel über die Masse habe ich geschrieben daß es wichtig ist daß man verschiedene Massen säuberlich auseinander hält, und die hier gewählte Methode des säuberlichen Auseinanderhaltens durch einen Widerstand scheint der Entwickler für irgendwie zweckmäßig gehalten zu haben. Die "Ausgangsmasse" wird typischerweise mit dem zentralen Masse-Sternpunkt im Gehäuse verbunden, und nicht selten ist daran auch der Schutzleiter des Netzkabels angeschlossen (was ja sicherheitstechnisch geboten ist). Die "Eingangsmasse" wird mit der Cinch-Buchse für den Eingang verbunden, die in diesem Fall vom Gehäuse isoliert ist, denn sonst würde man über das Gehäuse ebenfalls mit dem Sternpunkt und damit mit der Ausgangsmasse verbunden, und R5 wäre über diesen Weg kurzgeschlossen. So ist es jedenfalls im Wiki zum SymAsym beschrieben.

Bei der ganzen Geschichte mit der Masse geht es letztlich darum, den Weg zu kontrollieren, den Störströme nehmen, vor allem solche mit 50 oder 100 Hz, und dafür zu sorgen daß diese Störungen nicht im Audiosignal auftauchen. Wir wollen uns daher mal anschauen inwieweit dieser R5 dabei hilft. Zu unserer obigen vereinfachten Schaltung kommt also noch eine Störquelle hinzu, die wir dort in einer Art und Weise "anschließen" müssen wie es typisch wäre für ein reales Szenario.

Vorher vereinfachen wir die Schaltung aber noch weiter, indem wir alles rausschmeißen was für diese Fragestellung nicht wichtig ist. Damit entfernen wir uns zwar vom SymAsym, aber das Ganze wird nochmal übersichtlicher. Wir können auf den Eingangsfilter und den Schutzfilter verzichten, und in der Gegenkopplung fassen wir Widerstände und Kondensatoren zu zwei komplexen Impedanzen zusammen. Komplex ist das in dem Sinne daß es zwar aussieht wie ein Widerstand, daß dessen Widerstandswert aber durch eine komplexe Zahl beschrieben ist. Das sieht dann so aus:



Nota bene daß ich nicht damit ausdrücken will daß die Filter, die ich rausgeschmissen habe, überflüssig wären. In einen realen Verstärker gehören sie rein, aber für die Betrachtung hier stören sie bloß. Wie sich die Situation mit den Filtern darstellen würde ist Hausaufgabe für die Eifrigen. Ich habe neben der Störquelle auch noch die Leitungswiderstände für ein Kabel eingezeichnet, mit dem die Signalquelle an den Verstärker angeschlossen ist. Man denke sich hier irgendein NF-Kabel mit Cinch-Steckern. Für die konkreten Werte der Widerstände habe ich einfach mal willkürliche, aber nicht ganz praxisferne Werte eingesetzt, wie auch für den Spannungswert und den Innenwiderstand (Ri) der Störquelle (V4). Z1 und Z2 sind die komplexen Impedanzen der Gegenkopplung, die die Werte der Kondensatoren gleich mit enthalten. Derart vereinfacht fängt die Sache an, einigermaßen übersichtlich zu werden, nicht wahr?

Ich muß noch erklären warum ich die Störquelle genau so eingezeichnet habe, und nicht irgendwie anders. Die Störquellen die uns hier interessieren sind die, welche unterschiedliche Massepegel zwischen den Geräten bewirken. Ich habe darüber schon Einiges in meinem Beitrag über die Masse geschrieben, das ich hier nicht wiederholen will. Wenn wir uns die Signalquelle als ein Gerät denken, und den Verstärker als ein anderes Gerät, und sie sind mit einem unsymmetrischen Kabel mit Cinch-Steckern miteinander verbunden, dann geht es folglich um Störspannungen zwischen den Massen dieser beiden Geräte. Dementsprechend habe ich die Störquelle eingezeichnet, und ich habe sie auch bewußt mit einem Innenwiderstand versehen, denn der spielt eine Rolle dabei wie stark die Störströme sind von denen ich in besagtem Artikel gesprochen habe.

Jetzt sind wir endlich so weit, daß wir die Situation genauer untersuchen können. Wir haben ein Nutzsignal, das von der Signalquelle kommt, durch den Verstärker verstärkt wird, und möglichst unverfälscht an der Last RL ankommen soll. Daneben haben wir ein Störsignal, von dem wir so wenig wie möglich an RL sehen wollen. Wenn wir den OpAmp und die Stromversorgung als ideal annehmen, dann hängt die Antwort auf diese Fragen bloß von den Werten der paar verbliebenen Komponenten in der Schaltung ab. Man kann also hoffen daß man das rechnerisch in den Griff kriegen kann.

Nicht erschrecken, jetzt kommen ein paar Formeln.

Ein idealer OpAmp "wuchtet" seinen Ausgang so in der Gegend herum daß an seinen beiden Eingängen die gleiche Spannung anliegt. Diese saloppe Darstellung gilt jedenfalls so lange sich das Gebilde in einem "normalen" Betriebszustand befindet. Im Falle von Clipping bzw. Übersteuerung sieht's anders aus, aber davon wollen wir mal nicht ausgehen. Da Z1 und Z2 einen Spannungsteiler bilden (es macht hier keinen Unterschied daß sie komplex sind) ergibt sich folgende Formel:

Ua * Z2 / (Z1 + Z2) = U+

dabei ist Ua die Ausgangsspannung des OpAmp, und U+ ist die Spannung an seinem positiven Eingang. Die linke Seite der Gleichung beschreibt also die Situation am negativen Eingang des OpAmp, und die rechte Seite die am positiven Eingang. So umgeformt daß Ua das Ergebnis ist, ergibt sich:

Ua = U+ * (Z1 + Z2) / Z2

Der Bezugspunkt bzw. Nullpunkt für U+ und für Ua ist dabei zunächst einmal der "Fußpunkt" von Z2, also das was im ersten Bild die "Eingangsmasse" war.

Wenn nun sowohl Rs als auch R5 Null Ohm hätten, dann wäre der Bezugspunkt für die Signalquelle, für die obige Gleichung, und auch für die Last RL identisch. Die Störquelle würde zwar einen Strom durch die Masse schicken, aber der wäre angesichts von Null Ohm ohne Konsequenz für die Situation beim Nutzsignal.

Null Ohm sind aber unrealistisch. Sehen wir uns also an wie die Lage bei realen Widerständen aussieht. Rm können wir vernachlässigen, denn ein idealer OpAmp hat einen unendlichen Eingangswiderstand, somit fließt hier kein Strom. Interessanter sind schon Ri, Rs und R5, denn die liegen im Störstromkreis in Serie, und zusammen mit der Störspannung von V4 führen sie zu einem Störstrom Ix nach folgender Formel:

Ix = U4 / (Ri + Rs + R5)

Der Störstrom fließt durch alle drei Widerstände, und führt nach dem ohmschen Gesetz zu einem Spannungsabfall in jedem der drei Widerstände.

Der Spannungsabfall in Rs verschiebt den Bezugspunkt der Signalquelle relativ zum Fußpunkt von Z2, anders gesagt bewirkt das eine Störspannung, die sich zum Eingangssignal des Verstärkers addiert. Die Stärke dieser Störspannung ist:

Us = Rs * Ix

Der Spannungsabfall in R5 verschiebt den Bezugspunkt der Last relativ zum Fußpunkt von Z2, anders gesagt bewirkt es eine Störspannung, die sich zum Ausgangssignal des Verstärkers addiert. Seine Stärke ist:

U5 = R5 * Ix

Da die erste der beiden Störspannungen durch den Verstärker verstärkt wird, kann man nich einfach beide summieren. An der Last erscheint die zweite unverstärkt plus die erste verstärkt, ausgedrückt durch folgende Formel:

Uy = U5 + Us * (Z1 + Z2) / Z2

Uy ist dabei die Störspannung, die insgesamt an der Last, also dem Lautsprecher, ankommt. Wir wollen selbstverständlich daß das so wenig wie möglich ist. Genauer gesagt wollen wir R5 so wählen daß die Störung minimal wird. Auf die anderen Parameter haben wir wenig Einfluß, denn Rs hat was mit dem NF-Kabel zu tun, und das sucht der Anwender aus und nicht der Verstärkerentwickler. Auf die Störquelle hat man als Entwickler auch keinen Einfluß, die ist halt so wie sie sich beim Anwender darstellt. Bleibt R5 als Stellschraube, an der der Verstärkerentwickler drehen kann.

Die obigen Gleichungen kann man kombinieren zu der folgenden Gleichung:

Uy / U4 = (R5 + Rs * (Z1 + Z2) / Z2) / (Ri + Rs + R5)

Man sieht da schon das R5 auf der rechten Seite sowohl im Zähler als auch dem Nenner des Bruches steht, was darauf hindeutet daß es nicht auf eine geradlinige Lösung hinausläuft.

Spielen wir ein paar Fälle durch:
  • Wenn Ri und Rs Null wären, dann wäre Uy / U4 = 1. Das bedeutet daß die Störspannung eins zu eins im Ausgangssignal auftauchen würde.
  • Wenn Rs Null bleibt, aber Ri nicht Null ist, dann ergibt sich ein einfacher Spannungsteiler, und das Verhältnis von Ri zu R5 bestimmt welcher Bruchteil der Störspannung im Ausgangssignal auftaucht. Je kleiner R5 im Verhältnis zu Ri wird, desto schwächer wird der Einfluß der Störung. In dieser Situation müßte man also R5 so klein wie möglich machen, und dementsprechend sind bei vielen Verstärkern die beiden Massen auch direkt verbunden -- kein R5 taucht im Schaltplan auf.
  • Wenn R5 Null ist, aber Rs nicht, dann ist es wiederum ein Spannungsteiler, und zwar diesmal mit Ri und Rs. Der Unterschied zum vorigen Fall ist aber daß der daraus entstehende Bruchteil der Störspannung erst noch vom Verstärker verstärkt wird bevor er die Last erreicht.
  • Wenn Ri Null ist, aber Rs und R5 nicht, dann tragen beide ihren Teil zur Störung bei, aber der Anteil von Rs wird erst durch den Verstärker verstärkt. Wenn der Verstärker 20-fach verstärkt, dann wirken 10Ω bei R5 etwa so wie ein halbes Ohm bei Rs.
Es sieht also nicht besonders gut aus. Das Einzige was man für R5 ins Feld führen kann ist, daß im Vergleich zu Rs sein Beitrag zur Störung nicht durch den Verstärker multipliziert wird, wie das bei Rs der Fall ist. Ob sich dadurch ein Nettogewinn ergibt hängt insbesondere auch von Rs ab, und darauf kann man sich nicht verlassen. Wenn Rs klein ist, dann macht man am besten R5 ebenfalls klein.

Ob die Entwickler, die diesen Widerstand einbauen, sich das alles so überlegt haben?