Donnerstag, 30. Dezember 2010

Unsinnige Lösung eines nicht vorhandenen Problems

Wir kennen ja alle die audiophile Lust, sich in ein vorgestelltes technisches Problem hinein zu steigern, und zu dessen Lösung dann nur noch völlig abstruse technische Maßnahmen zu akzeptieren, die ohne Rücksicht auf praktische Aspekte den Eindruck erweckt, das Problem kompromißlos aus der Welt zu schaffen.

Früher hatte man dafür die Class-A Verstärker. Das vorgebliche Problem sind die Übernahmeverzerrungen bei Class-B, und die kompromißlose Lösung ist der völlige Verzicht auf Class-B. Daß dabei ein Vielfaches an Stromverbrauch und Wärmeentwicklung heraus kommt, was letztlich auch wesentlich mehr kostet, macht gerade den Charme der Kompromißlosigkeit aus. Gerade weil die Lösung in Form von Class-A so unwirtschaftlich ist muß es die richtige Lösung sein, alles andere wäre für Warmduscher.

Ob das vorgestellte Problem tatsächlich vorhanden ist entzieht sich der Kenntnis des Audiophilen. Es ist auch gar nicht wichtig, denn ein eingebildetes Problem ist genauso gut wie ein reales, schließlich kommt es ganz auf die Empfindung an. Wer einmal bei seinem Verstärker weiß daß er im Class-B Betrieb arbeitet, der empfindet beim Gedanken an die Übernahmeverzerrungen einen gewissen Mangel an Feinzeichnung und eine eingeschränkte Räumlichkeit. Die üblichen Symptome eines vorgestellten Problems eben.

Seit es digitale Audiotechnik gibt, gibt es ganz neue Möglichkeiten für vorgestellte Probleme. Besonders verdienstvoll bei der Erzeugung audiophiler Problem-Wollust ist der Jitter. Über den habe ich hier schon Einiges geschrieben, ich will das hier nicht wiederholen. Mir geht's um eine ganz bestimmte "Lösung", die man seit 15 Jahren in der einen oder anderen Form versucht den Audiphilen als kompromißlose High-End-Technik zu verkaufen, obwohl sie genauso billig wie unsinnig ist.

Ich meine die diversen Varianten der sogenannten I²S-Schnittstelle zwischen einem CD-Laufwerk und einem meist darauf abgestimmten D/A-Wandler.

Der Ursprung der Überlegungen kommt daher, daß die SPDIF-Schnittstelle, die man eigentlich für so eine Verbindung erfunden hat, anfällig ist für ein Phänomen das man als datenabhängigen Jitter bezeichnen kann. Anfang der 90er-Jahre war das ein großes Thema, und es gab Leute die deswegen der SPDIF-Schnittstelle ein prinzipielles Problem unterstellt haben.

Datenabhängiger Jitter kommt davon daß man die Daten und den Abtasttakt bei der SPDIF-Schnittstelle in ein einziges Signal kombiniert, damit man es auch über eine einzige Leitung übertragen kann. Die Verkabelung wird dadurch genauso einfach wie die für Videosignale, und man hat mit Absicht auch den gleichen Kabeltyp gewählt wie für Video, nämlich 75 Ohm Koaxleitungen.

Wenn man die Taktinformation aus den gleichen Zustandsänderungen des Signals extrahiert wie die Daten, dann führen ungleiche Flankensteilheiten und wandernde Schaltschwellen in der Tat dazu daß die Daten auf den Takt einen Einfluß haben, daß also die Daten den Takt in einem gewissen Ausmaß modulieren. Das Resultat ist eben der datenabhängige Jitter. Das Phänomen als solches ist also real. Ein Problem ist es aber noch lange nicht.

Es ist aber Anlaß genug für audiophile Besorgnis, und es würde einem Audiophilen etwas lahm erscheinen wenn man nicht eine Lösung anstreben würde die das Problem mit Stumpf und Stiel ausrottet, koste es was es wolle. Auftritt: Die I²S-Schnittstelle.

Die I²S-Schnittstelle wurde in den 80er-Jahren von Philips erfunden um innerhalb eines Gerätes einen D/A-Wandler mit dem Chip zu verbinden, der in einem CD-Spieler die Digitaldaten verarbeitet. Da es um Verbindungen innerhalb eines Gerätes ging machte man keine Anstrengungen, Leitungen zu sparen. Takt und Daten wurden getrennt geführt, ja es gibt sogar zwei getrennte Takte, einen für die Samples und einen für die Bits innerhalb eines Samples. Oft kommt sogar noch ein dritter Takt für den Betrieb des D/A-Wandlers hinzu, wenn der aufgrund seiner Funktionsweise eine noch höhere Taktfrequenz braucht. Die Trennung zwischen Takt und Datenleitungen macht diese Schnittstelle aber unempfindlich gegenüber datenabhängigem Jitter, und das hat in der Folge der Diskussion in den 90ern um die SPDIF-Schnittstelle einige High-End-Firmen dazu gebracht, zu überlegen wie man diese I²S-Schnittstelle auch für die Verbindung zwischen zwei Geräten einsetzen könnte, speziell zwischen CD-Laufwerk und D/A-Wandler.

Die Diskussion darüber ist also inzwischen bald 20 Jahre alt, und die Versuche rund um die I²S-Schnittstelle dauern in der einen oder anderen Form bis heute an, bloß daß immer wieder neue Spielarten, Steckverbinder und Kabeltypen dafür benutzt werden. Noch in den 90ern gab es Versionen von Audio Alchemy mit einem DIN-Stecker, und von Ultra Analog mit einem speziellen Stecker der für Computerbildschirme gedacht war. Es gab bzw. gibt auch Varianten mit mehreren getrennten BNC-Leitungen, und in jüngerer Zeit mit CAT-5 Kabeln und RJ45-Steckern (das Zeug was man von Computernetzwerken kennt), oder mit HDMI-Kabeln.

In allen diesen Fällen wird bloß das Steckerformat und der Kabeltyp zweckentfremdet, irgendeine Kompatibilität zu anderen Verbindungen besteht nicht. Es ist also schon deswegen eine blödsinnige Idee weil keine Einigkeit bezüglich der Steckverbindungen besteht, aber das kann man ja noch als von den Herstellern erwünscht verstehen, schließlich kann man dadurch Kunden an sich binden die auf den Trick hereingefallen sind. Es gibt aber noch eine Reihe von weiteren Argumenten warum es eine schwachsinnige Idee ist, bloß scheint sich das auch nach mehr als einem Dutzend Jahren noch nicht ganz herumgesprochen zu haben, denn die Technik ist noch immer nicht ausgestorben.
  1. Das Problem des datenabhängigen Jitters kann man auch einfacher lösen, ohne die SPDIF-Schnittstelle aufzugeben. Das Problem resultiert daraus daß Takt und Daten gleichzeitig in das Signal moduliert werden. Wenn man es zeitlich trennt kann man eine einzige Leitung beibehalten und trotzdem das Problem vermeiden. Wenn man sich das SPDIF-Datenformat genauer ansieht stellt man fest daß das bereits der Fall ist. Die Taktinformation, genauer der Wordclock, steckt in den sogenannten Präambeln, und die sind unabhängig von den Daten immer gleich. Neuere SPDIF-Empfänger rekonstruieren den Takt daher bloß aus den Präambeln, und ignorieren die Daten bei der Taktrekonstruktion. Der riesengroße Vorteil liegt darin daß nur der Empfänger geändert werden muß, das Datenformat selbst und damit der Sender ist bereits passend. An der SPDIF-Definition muß kein Jota geändert werden. SPDIF-Empfänger-Chips berücksichtigen das seit mindestens zehn Jahren, eigentlich müßte sich das Problem damit erledigt haben.

    Interessanterweise ist das die gleiche Situation wie bei den TV-Signalen. Dort werden auch Taktinformation und Daten über das gleiche Signal übertragen, und zwar schon seit Jahrzehnten vor der digitalen Audiotechnik. Der Takt ist für die Bildsynchronisation da, und die Daten für den Bildinhalt. Würde es zu Jitter kommen dann würde das Bild verwaschen werden oder in seiner Position vibrieren. Man mußte also schon damals eine Lösung dafür finden, und man hat genau das Gleiche gemacht: Man hat den Dateninhalt und die Synchronisationsinformation im Signal zeitlich getrennt; sie wechseln sich auf der Leitung ab. So kann das Eine das Andere nicht über Gebühr beeinflussen. Es ist nicht 100%ig, aber nichts ist 100%ig.

  2. Es gibt keinen guten Grund warum bei einer Verbindung von CD-Laufwerk und D/A-Wandler der Takt in die gleiche Richtung gehen müßte wie die Daten. Die bessere Lösung ist ohnehin wenn der Takterzeuger beim D/A-Wandler sitzt, und das Laufwerk darauf synchronisiert wird. In so einer Anordnung ist der Jitter auf dem Übertragungsweg praktisch egal; der Wandlertakt ist von dem Übertragungsweg unabhängig, schließlich wird er lokal erzeugt. Was man dafür braucht ist ein fremdsynchronisierbares CD-Laufwerk, also eines das einen Wordclock-Eingang hat. Der D/A-Wandler schickt dem Laufwerk seinen Wordclock, und das Laufwerk schickt dazu synchron seine Daten an den Wandler. Das sind zwar zwei getrennte Signale, aber man kann für die Datenverbindung beim SPDIF-Format bleiben, und damit kompatibel bleiben, und ein fremdsynchronisierbares CD-Laufwerk ist ein ohnehin wünschenswertes Feature, denn in größeren Anlagen (gerade auch im professionellen Bereich) sollten alle Geräte auf einen gemeinsamen Takt synchronisierbar sein.

    Beide Signale, der Wordclock und das SPDIF-Datensignal, sind quasi standardisiert, und man braucht keine neuen Schnittstellen zu erfinden. Zudem ist der Jitter in so einem Szenario nur noch ein lokales Problem innerhalb des D/A-Wandlers, und unterliegt keinem Einfluß aus dem SPDIF-Signal mehr. Das heißt daß diese Situation sogar noch besser ist (was den Jitter betrifft) als die I²S-Schnittstelle über welches Kabel auch immer.

  3. Man kann den Jitter auch durch eine zweistufige PLL eliminieren. Diese Technik ist mindestens ebenso alt wie das Problem selbst. Die SPDIF-Empfängechips haben eine eigene PLL mit dem sie den Takt aus dem Signal rekonstruieren, aber diese PLL ist für korrekte Datenextraktion optimiert und nicht unbedingt für jitterarmes Antreiben eines D/A-Wandlers. Um einen D/A-Wandler mit einem guten jitterarmen Takt zu versorgen kann es sein daß man eine weitere PLL braucht. Das war vielleicht mal eine konstruktive Herausforderung als die Sache neu war, aber inzwischen gibt's einfach einsetzbare Chips die dieses Problem für wenige Dollar erschlagen.

    Selbst ohne eine Wordclock-Leitung vom D/A-Wandler zum Laufwerk kann man das Jitterproblem also ohne große Probleme im Griff behalten, wenn man eine zweite PLL einsetzt.

  4. Eine weitere Alternative besteht in der Verwendung eines Abtastratenwandlers im D/A-Wandler. Dafür gibt's ebenfalls seit Jahren brauchbare Chips die ihrerseits den Jitter gut unterdrücken können. Statt einer zweiten PLL kann man auch auf diese Strategie setzen.

    Ein Abtastratenwandler im Laufwerk hat demgegenüber keinen Sinn, es sei denn er wäre fremdsynchronisierbar. Eine andere Abtastrate ändert am Jitter nämlich erstmal nichts.
Wenn es für den I²S-Trick überhaupt ein Argument gibt, dann ist es die konstruktive Einfachheit. Außer einem Leitungstreiber braucht man nämlich dafür gar nichts, man kann sogar auf die SPDIF-Sender und Empfänger verzichten. Es wäre damit eigentlich etwas für eine absolute Billiglösung bei der man den letzten Cent einsparen muß, außer daß heutzutage die Chips so billig sind daß man besser an den Steckern sparen kann als an der Elektronik. Stattdessen verkauft man das als eine High-End-Lösung, was recht eigentlich absurd ist.

Aber das ist High-End, nicht wahr: Wenn man die einfachste Lösung trotz ihrer Mängel als das Nonplusultra verkauft, das ein Problem löst welches gar nicht wirklich existiert, was aber trotzdem die Phantasie der Ahnungslosen beflügelt und ihre Geldbörsen öffnet.


Kommentare bitte im üblichen Thread.


(Nachtrag: Links hinzugefügt.)

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Unerwünschte Apostaten

Es gibt ja eine Menge von ehemaligen Audiophilen, die irgendwann gemerkt haben welche verlogene und selbstbezogene Szene das ist, und wie wenig deren Glaubenssätze mit der Realität zu tun haben. Ich habe bloß den Eindruck das da die Dunkelziffer ziemlich groß ist. Ich denke ich habe auch eine Erklärung dafür.

Wenn jemand von seinem Glauben abfällt und sich davon distanziert dann nennt man das Apostasie. Öffentliche Apostasie ist schon immer recht selten gewesen, denn man gibt dabei ja öffentlich zu daß man vorher völlig falsch gelegen hat. Schon dafür braucht es, wenn es um wichtige Dinge und nicht bloß eine Lappalie geht, ziemlich viel Charakter und Selbstsicherheit. In solchen wichtigen Dingen, die auch eine Bedeutung für die gesellschaftliche Umgebung haben, kommt aber oft noch ein ziemliches Ausmaß an sozialem Druck dazu. Dem muß man erst einmal zu trotzen wagen, zumal man ja wegen seines eingestandenen Irrtums recht verwundbar ist. Wer immer "recht" hatte und auf Kurs bleibt hat erst einmal die besseren Karten.

Bei den Religionen war das schon immer so, und man hat haufenweise Anschauungsmaterial wie das funktioniert. Die meisten Leute nehmen eher innerlich Abschied davon und hängen's nicht an die große Glocke, anstatt sich offen als Abtrünniger zu outen, und dabei Gefahr zu laufen, einen Teil seines sozialen Umfelds vor den Kopf zu stoßen. Es ist dabei immer mehr im Spiel als einfach eine prersönliche Ansicht oder Meinung. Und wenn man es selbst schon als eine bloße Meinungssache ansieht, so sorgt die Umgebung oftmals dafür daß der Einsatz höher wird.

Was die Religion angeht haben wir uns in Europa durch Humanismus und Aufklärung ein Ausmaß an Freiheit erobert das die Apostasie ohne sozialen Selbstmord ermöglicht. Das ist beileibe nicht selbstverständlich, auch heute noch nicht, und auch im christlichen Teil der Welt nicht. In anderen Teilen der Welt kann einem die Apostasie noch immer den Tod einbringen. Den realen, nicht bloß den sozialen.

Das ist natürlich weit entfernt von der Situation bei Hifi-Enthusiasten, aber auch da gibt es Apostaten, und ich finde es auffällig wie man mit ihnen umgeht. Ich denke viele Hifi-Apostaten können meine Beobachtungen bestätigen:

Zuerst verhält sich der Audiophile so als hätte er ein Wissen das der Abstreiter erst noch erwerben muß, und er scheint zu glauben daß es bloß die richtige Hörerfahrung mit einer anständigen Anlage bräuchte, und der Abstreiter wäre gewissermassen "geheilt". Mit anderen Worten, der Abstreiter "ist noch nicht so weit", und der Audiophile ist ihm um ein paar Schritte voraus. Entsprechend gönnerhaft treten manche auf, zählen Höranekdoten mit teuren Anlagen auf in der anscheinenden Hoffnung dem Betreffenden seinen Mangel vor Augen zu führen.

Man kann dann als Abstreiter durchblicken lassen daß man genau diese Phase schon vor zehn oder zwanzig Jahren durchlaufen hat und inzwischen nicht nur die entsprechenden Hörerfahrungen hinter sich hat, sondern auch die audiophile Überzeugung. Daß man eben nicht noch was nachzuholen hätte, sondern im Gegenteil schon ein paar Schritte weiter ist und seinen früheren Fehler begreift.

Aber das hilft nichts. Wer von Euch Abstreitern da draußen hat darauf schon einmal eine vernünftige Reaktion gekriegt? Ich nicht. In aller Regel reagiert man darauf überhaupt nicht. Es wird einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Wenn man Glück hat und es kommt überhaupt eine Reaktion, dann kriegt man's mit Spekulationen zu tun daß man eben doch nicht die richtige Anlage gehört hat, oder daß man ein Problem mit dem Gehör hat, oder daß man nicht erlebnisfähig ist, oder dogmatisch verbohrt. Dabei wird völlig übersehen daß der Apostat ja mal selber ein Audiophiler war und darum zumindest mal geglaubt haben muß daß er die richtige Anlage und das passende Gehör hat um das alles zu hören was die Audiophilen hören.

Und genau da liegt auch ganz allgemein das Problem mit den Apostaten. Ein Apostat sagt sich ganz bewußt von etwas los, nicht weil er es nicht kennen würde, sondern im Gegenteil weil er es zu gut kennengelernt hat um noch dran glauben zu können. Dem Ungläubigen kann man mit Milde und Mitleid begegnen, denn er ist eben einfach noch nicht erleuchtet worden. Der Apostat dagegen weiß genau Bescheid, er kennt die inneren Widersprüche ganz genau die man so gern unter den Teppich kehrt. Der Ungläubige ist ein Ansporn, der Apostat ist eine Gefahr.

Aus dieser Sicht wird klar warum Apostaten zumindest unbeliebt sind, und nicht selten angefeindet werden. Ein Apostat demonstriert mit seinem Beispiel, daß es ein "Leben nach dem Glauben" gibt, daß man darüber hinweg kommen kann und der Glaube nicht etwa das Ende der Fahnenstange ist, sondern ein Phase die man hinter sich lassen kann und dann auch kein Bedürfnis mehr danach verspürt, dahin zurück zu kommen. Einsicht ist eine Einbahnstrasse. Man kann sie nicht rückgängig machen.

Es gibt höchstens faustische Zweifel an der gewonnenen Einsicht, manche Leute sehnen sich in die selige Einfalt zurück. Aber auch Faust hätte das nicht getan selbst wenn er gekonnt hätte.


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Freitag, 10. Dezember 2010

Fraktale Realität

Fraktale sind sich selbst ähnlich, die Strukturen im Kleinen sehen genauso aus wie die im Großen. Die Bilder hat wohl noch Jeder vor Augen, Apfelmännchen & Co.

Beim Verhalten scheint es auch nicht anders zu sein. Staaten scheinen sich genauso zu verhalten wie ein 16-Jähriger, und 16-Jährige wollen's mit Staaten aufnehmen. Und auf allen Ebenen wird geheuchelt, und man biegt sich seine Wahrheit zurecht, selbst wenn man sich dabei völlig absurd verhalten muß.

Es geht natürlich um Wikileaks. Kein audiophiles Thema, ok, aber irgendwie sehe ich da auch Parallelen. Die Art und Weise wie manche Leute sich ihre Weltbilder verteidigen, und das Ausmaß an Desinformation das dabei produziert wird, kommt mir irgendwie bekannt vor. Wie im Kleinen so im Großen.

Das Gute dabei ist daß Heuchelei, Lüge und Betrug im Angesicht der Wahrheit so deutlich sichtbar werden.

Beispiel US-Diplomatenkorrespondenz. Man behauptet, die Veröffentlichungen seien nicht wirklich etwas Neues, und übertrifft sich gleichzeitig darin, immer noch monströsere Anschuldigungen auszusprechen und Gefahren an die Wand zu malen. Der Widerspruch scheint manchen gar nicht aufzufallen.

Investigativer Journalismus ist nun wirklich nichts Neues, und zu seinen Geschäftsgrundlagen gehört es, vertrauliche oder geheime Quellen anzuzapfen und zu veröffentlichen. Wikileaks ist dabei wenig mehr als eine weitere Quelle, im Grunde gibt es nur zwei Unterschiede zur Situation vor der Zeit von Wikileaks:
  1. Informant und investigativer Journalist brauchen nicht direkt in Kontakt zu treten, Wikileaks fungiert als Zwischenstation, die letztlich den Informantenschutz verbessert.
  2. Die Quellen werden von Wikileaks der interessierten Öffentlichkeit direkt zugänglich gemacht. Auch wenn die meisten Leser die Informationen nach wie vor aus der Presse entnehmen werden, so können sie doch bei genügend Interesse die Quellen auch selbst studieren, und so letztlich auch die Journalisten bei ihrer Arbeit kontrollieren.
So groß scheinen die Unterschiede gar nicht zu sein, aber es wird ein Theater darum veranstaltet als seien staatliche Existenzen davon bedroht. Wikileaks wird unter Terrorismusverdacht gestellt, man behauptet die "Aktivisten" hätten Blut an den Händen, würden Leben auf's Spiel setzen, und erklärt die Leitfiguren zu Staatsfeinden. Dabei sind diejenigen die das Material wirklich unter die Leute bringen nach wie vor die Medien. Mit einigen Zeitungen und Zeitschriften hat Wikileaks sogar direkt und eng zusammengearbeitet, nicht zuletzt um das Material vor der Veröffentlichung zu sichten und eventuelle Gefahren von Individuen zu vermeiden indem man ihre Namen in den Dokumenten schwärzt. Diese Medien werden aber nocht nicht einmal annähernd so giftig angegriffen.

Unter diesen Medien ist auch die New York Times, eine traditionsreiche US-Tageszeitung. Während Wikileaks sich gefallen lassen muß daß man fordert, ihre Leitfiguren wie Terroristen zu behandeln, die man ohne rechtsstaatliches Verfahren einfach ausschalten kann, muß sich die New York Times gerade einmal "unpatriotisches Verhalten" vorhalten lassen. Dabei lesen weitaus mehr Leute die Botschaftsdokumete in der Zeitung als auf der Wikileaks-Webseite. Wenn also die Veröffentlichung dieser Dokumente so übel wäre, dann wären die Zeitungen weitaus "schuldiger" als Wikileaks.

Aber die Presse hat ja noch immer ihre "Pressefreiheit". Die scheint im Moment noch etabliert genug zu sein daß man sie nicht direkt und unverblümt in Frage stellen kann. Bei Wikileaks kann man aber so tun als wäre das etwas ganz anderes und hätte mit Pressefreiheit nichts zu tun. Dabei würde jede Zeitung die etwas von sich hält eine solche Dokumentensammlung wie die Botschaftsdokumente mit Handkuß annehmen und ausschlachten, auch wenn kein Wikileaks dazwischen wäre. Und wenn sie es nicht ausschlachten würden, dann hätten sie als "freie Presse" abgedankt und wären de facto überflüssig. Wie sonst wären die diversen älteren Skandale aufgedecht worden, die in die Geschichte eingegangen sind? Welcher dieser Skandale hätte aufgedeckt werden können ohne geheime Dokumente die an die Presse durchgestochen werden? Watergate? Parteispendenaffäre?

Der Umgang mit Wikileaks ist daher entlarvend: Bei den Angriffen auf Wikileaks könnte man auch die Presse dafür einsetzen. Wer Wikileaks offen angreift äußert damit das was er auch der Presse gegenüber denkt, aber sich nicht zu sagen traut, weil die Pressefreiheit Verfassungsrang hat. Die Heuchelei wird sichtbar, und die insgeheime Einstellung auch.

Was aber fast noch interessanter ist als das Verhalten der betroffenen Regierungsvertreter ist das Verhalten mancher Medien. Im Grunde müßten die Medien Wikileaks eigentlich als eine Chance begreifen , an Material bequemer und sicherer heranzukommen. An dem Material müßten sie natürlicherweise interessiert sein, denn daraus machen sie ihre Stories. Konkurrenz ist Wikileaks eher nicht, denn wer liest schon hunderttausende Dokumente im Wortlaut (und in der Originalsprache) um sich einen Überblick zu schaffen? Das veröffentlichte Material verlangt ja geradezu nach einer Bearbeitung und Bewertung durch die Medien, und genau darin liegt Chance und Aufgabe der Medien.

Etliche Blätter und Kanäle reagieren aber so als hätten sie mit Wikileaks ein Huhn zu rupfen. Das kommt in meinen Augen einer Selbstkastration gleich. Das wirkt auf mich so als wäre den entsprechenden Medien eine vorgefilterte Pressekonferenz des US-Militärs über Guantanamo Bay lieber als ein Insassenbericht. Ist ja auch bequemer, nicht wahr? Man will ja nicht wirklich die Wahrheit wissen, für die müßte man sich ja anstrengen, und würde sich womöglich noch Feinde machen. Nächstes Mal wird man womöglich vom US-Militär zur Pressekonferenz gar nicht mehr eingeladen...

Vielleicht ist's aber auch einfach Neid. Neid daß man nicht zu den handverlesenen paar Zeitungen gehört die von Wikileaks ins Vertrauen gezogen wurden. Da lamentiert man lang und breit darüber wie scheiße so eine Veröffentlichung doch ist, und welche Fehler der Wikileaks-Chef doch hat, und letzlich ist man bloß eingeschnappt weil man von ihm nicht ausgesucht worden ist. So kam's mir diese Woche z.B. bei der Süddeutschen Zeitung vor. Krasses Beispiel dafür war der Kommentar des Chef-Außenpolitikers der Zeitung Stefan Kornelius, in dem er unter partieller Ausblendung der Realität alles zusammengeklaubt hat was man Assange ans Bein binden kann. Ich habe mich drüber aufgeregt, bis mir klar geworden ist daß er sich damit wohl mehr entlarvt hat als er selber realisiert.

Er schreibt über Assange: "Seine Veröffentlichungen im Namen der Freiheit richten Schaden an. Sie zerstören Politik, gefährden Menschen, können Ökonomien beeinflussen." Für einen politischen Journalisten ist das in meinen Augen ein Offenbarungseid und eine geradezu peinliche Selbstentblößung. Von daher finde ich es direkt wertvoll, ich bewundere Wikileaks dafür wie solche Falschheiten ans Tageslicht befördert werden, gerade auch die die nicht direkt in den Dokumenten stehen, sondern die die sich an den Reaktionen ablesen lassen.

Welche Politik wird zerstört? Welche Menschen werden gefährdet? In welche Richtung werden Ökonomien beeinflußt? Welcher Schaden wird verursacht?

Ist das automatisch schlecht? Was ist mit dem potentiellen Nutzen?

Ich frage mich dagegen: Was ist ein Journalist wert der nicht Politik zerstören oder besser gesagt stören will*, wenn er die Möglichkeit dazu hat? Was ist ein Journalist wert dem die Wahrheit nicht wichtiger ist als ein Risiko? Welcher selbstbewußte Journalist wäre damit zufrieden, wenn er nichts beeinflussen kann?

Die Veröffentlichung der Wahrheit wäre sogar dann zu befürworten wenn manche Leute dadurch in Gefahr kommen, denn die Wahrheit zu verheimlichen gefährdet üblicherweise ebenfalls Leute. Wahrheit ist gefährlich, weil es so viele Lügner gibt. Als krasses Beispiel kann der Irak-Krieg herhalten: Der hat hunderttausenden Menschen das Leben gekostet, und er basiert auf einer Lüge. Ohne diese Lüge würden viele davon wahrscheinlich noch am Leben sein. Wir brauchen mehr Wahrheit, nicht Leute die uns erzählen daß Wahrheit für uns gar nicht gut ist, und schon gar nicht Journalisten die uns das erzählen.

Dabei stimmt es gar nicht daß die Dokumente auf verantwortungslose Art und Weise veröffentlicht worden wären. Im Gegenteil, genau deswegen hat ja Wikileaks die Zeitungen eingespannt. Wenn es ohne Rücksicht auf Verluste nur um die Veröffentlichung gegangen wäre, dann hätte man das ganze Material einfach unbearbeitet komplett ins Netz stellen können und sich den Aufwand mit den Zeitungen sparen können.

Ist es nicht verblüffend? Ein bißchen Wahrheit, und schon konkurrieren etliche Leute, und ganze Regierungen, darum wer die absurdeste Vorstellung gibt. Wer ein bißchen Grips hat braucht die veröffentlichten Dokumente gar nicht zu lesen. Die Reaktionen der Betroffenen sagen genug.


Kommentare im üblichen Thread.


* Was soll das überhaupt bedeuten, "Politik" zu zerstören? Welche verquere Vorstellung von Politik muß man haben wenn man glaubt daß sie zerstört werden kann indem man ein paar Dokumente veröffentlicht? Das Veröffentlichen von geheimen Dokumenten ist Bestandteil und Mittel von Politik, und beileibe nicht deren Ende.