Donnerstag, 1. November 2012

Stereoplay-Verstärkermessungen, fünfter Versuch

Ich war dieses Jahr nicht auf der High-End in München, aber vielleicht hätte ich hingehen sollen, denn wie ich inzwischen mitgekriegt habe (jaja ich weiß: ziemlich spät), sind die dubiosen Verstärkermessungen der Stereoplay wieder aus der Versenkung aufgetaucht, nämlich in der Form eines neuerlichen Vortrags von Peter Schüller, dem Laborleiter der Testfactory, dem von der Stereoplay beauftragten Meßlabor in Stuttgart. Kurioserweise findet man die schriftlichen Unterlagen auf der Webseite der Firma Burosch, ich war aber erfolglos auf der Seite der Stereoplay und der Testfactory auf der Suche.

Wenn man sich die ganzen Kontroversen in Erinnerung ruft, die es um diese Messungen vor einigen Jahren gab (siehe dazu hier, hier, hier, hier und hier), dann wird natürlich interessant, zu sehen was sich an der Darstellung inhaltlich getan hat. Speziell, ob man die damals geäußerte massive Kritik in irgendeiner Form berücksichtigt findet. Nicht, daß ich angesichts der bisherigen Verhaltensweisen der Stereoplay-Vertreter da irgendeine Hoffnung hätte, die Fortsetzung der Totalverweigerung ist da sicher die wahrscheinlichste Annahme. Aber sehen wir uns das ruhig mal im Einzelnen an.

Schüller möchte den Bezug zur sog. "Stereoplay-Klirrtheorie" herstellen, die in den 80er Jahren von Stereoplay-Redakteur Johannes Maier formuliert wurde. Sie besagt daß gut klingende Verstärker ein Klirrspektrum haben, bei dem die höheren Harmonischen eine abfallende Stärke haben. Insofern der Klirr so stark ist daß er hörbar wird, ist das auch leicht nachzuvollziehen. Daß höhere Harmonische unangenehmer klingen als niedrige Harmonische, und deswegen auch schneller stören, war auch schon 1985 jahrzehntelang bekannt.Entsprechende Aussagen habe ich schon in der Literatur der 50er Jahre gefunden, als es noch keine Transistorverstärker in der HiFi-Technik gab. Die Theorie ist also wohl kaum auf dem Stereoplay-Mist gewachsen, und es war dazu anscheinend auch kein moderner Spektrumanalysator nötig (daß er hilfreich ist steht außer Zweifel). Unklar bleibt, warum das auch noch dann gelten soll, wenn der Klirr insgesamt sehr gering ist, und ich konnte bisher keine Erklärung, weder von der Stereoplay noch von sonstwem, finden, warum das unabhängig von der Stärke des Klirrs gelten soll. Es sollte intuitiv klar sein, daß unterhalb eines bestimmten Klirrniveaus die Klirrverteilung egal ist. Es kann dann nur noch darum gehen, wo dieses "Unbedenklichkeits-Niveau" in der Praxis liegt. Schüller läßt das völlig undiskutiert.

Der nächste angeblich klangbestimmende Faktor ist laut Schüller der Frequenzgang, also lineare Verzerrungen. Schüller will offenbar die Gegenkopplung für Probleme mit dem Frequenzgang verantwortlich machen, speziell bei wechselnder Lastimpedanz, aber es ist nicht erkennbar wie seine Behauptung von den von ihm gezeigten Meßkurven gestützt wird. Mir scheint eher die Überlegenheit der Gegenkopplung daraus deutlich zu werden. Obwohl der gezeigte Verstärker mit einer Last von 2 Ohm deutliche Schwierigkeiten hat, was auf viele Verstärker zutreffen dürfte, die für solche Lasten nicht konstruiert sind, ist der Einfluß mit Gegenkopplung geringer als ohne.

Zudem versucht Schüller in der schriftlichen Präsentation den Eindruck zu erwecken, als wäre die Gegenkopplung "erfunden" worden, um die nachteiligen Transistorkennlinien zu linearisieren. Das ist natürlich falsch. Die Gegenkopplung stammt aus der Röhrenzeit, und wurde auch bei Röhrenverstärkern erfolgreich zur Klirr-Reduktion benutzt, denn auch die Röhrenkennlinien sind nicht linear. Als die Transistorverstärker aufkamen war die Gegenkopplung schon längst allgemein akzeptierte Technik bei Röhrenverstärkern. Prominentes Beispiel: Der Williamson-Verstärker aus den 40ern. Der erreichte Klirrwerte von an die 0,1% nur wegen seines Einsatzes von Gegenkopplung, und wurde wegen seiner Klangqualität als Meilenstein angesehen.

Schüller's nächster Punkt ist die "Rückflußdämpfung", und da kommt er an dem Punkt an, den auch die erwähnte "Meßtechnik-Sensation" von 2009 aufgehängt war. Nach mehreren Fehlzündungen kam die Stereoplay damals schließlich auf die Verwendung eines MLS-Signals, das "rückwärts" in den Verstärkerausgang eingespeist wird, entweder über einen Ohmschen Widerstand oder über eine Lautsprecher-Nachbildung. Am Verstärkerausgang mißt man dann, was davon übrig ist, was also der (stumme) Verstärker nicht mit seiner niedrigen Ausgangsimpedanz "kurzgeschlossen" hat. Nimmt man den Ohmschen Widerstand, dann kann man so den Dämpfungsfaktor über die Frequenz bestimmen (dazu wäre aber kein MLS-Signal nötig, das ginge ganz genauso und leichter mit einfachen Sinussignalen). Nimmt man die Lautsprecher-Nachbildung, dann überlagert sich dieser Dämpfungsfaktor-Kurve noch die Impedanzkurve der Lautsprecher-Nachbildung. Was man sieht ist der kombinierte Effekt von Beidem.

Schüller behauptet, man sehe daran den Einfluß des Lautsprechers auf den Verstärker. Das ist falsch. Man sieht daran lediglich, wie zwei frequenzabhängige Widerstände (die Lautsprechernachbildung und die Ausgangsimpedanz des Verstärkers) sich zu einem frequenzabhängigen Spannungsteiler kombinieren. Dieses Ergebnis hätte man auch rechnerisch ermitteln können, es ist keinesfalls überraschend oder neu, und hat auch nichts mit einer Rückwirkung zu tun. Hier sind die Kritikpunkte aus den früheren Diskussionen offensichtlich ignoriert worden, und es werden weiterhin falsche oder irreführende Aussagen gemacht.

Das setzt sich fort in der Diskussion des rückwärts eingespeisten Rechtecksignals. Hier begegnet uns der Brinkmann-Verstärker wieder, an dessen Test sich vor mehr als 3 Jahren die Debatte entzündet hatte. Schüller versucht, den Eindruck zu erwecken als habe das dargestellte Rechtecksignal mit weniger Überschwingern einen Bezug zum angeblich besseren Klang des Brinkmann. Abgesehen davon daß diese Aussage nach wie vor nicht belegt wird, weil keinerlei Hörtests zur Erhärtung vorgestellt wurden, ist das auch eine sehr unglaubwürdige Schlußfolgerung. Die gezeigten Rechteckdarstellungen des rückwärts eingespeisten Signals zeigen im Grunde das Gleiche wie die vorher gezeigten Kurven der "Rückfluß-Dämpfung" (Folie 15), bloß einmal im Frequenzbereich und einmal im Zeitbereich. Aus Folie 15 kann man schon abschätzen wie hoch die Überschwinger an den Rechteckflanken sein würden, und wie hoch die waagrechten Linien, auf denen sich das Rechteck einschwingt. Es ergibt sich allerdings daß der Maßstab nicht übereinstimmen kann, oder daß die beiden Rechteckkurven nicht mit vergleichbaren Meßbedingungen ermittelt wurden, denn sonst hätte das Rechteck rechts in Folie 23 mindestens die doppelte Amplitude haben müssen.

Generell schlägt sich in dieser Rechteckmessung der Dämpfungsfaktor bei niedrigen Frequenzen auf die Höhe des Rechtecks als solchem nieder, und der Dämpfungsfaktor bei hohen Frequenzen auf die Höhe der Überschwinger. Ist der Dämpfungsfaktor bei allen Frequenzen gleich, dann verschwinden die Überschwinger. Das ist wieder nichts Anderes als die Kombination zweier frequenzabhängiger Widerstände (Impedanzen) in einem Spannungsteiler. Dazu ist es nicht die Btrachtung des am Lautsprecher ankommenden Signals, sondern der am Verstärker ankommenden Rückwirkung, von der zudem keine Beeinflussung des eigentlichen Verstärkers zu erkennen ist. Auch hier ist nicht zu erkennen, daß man bei der Stereoplay aus der früheren Kritik irgend etwas gelernt hätte.

Schüller kommt dann wieder auf die Thematik des Klirrs zurück, und es fällt auf daß für ihn die absolute Höhe der Klirrwerte gar keine Rolle zu spielen scheint. Nur auf die relativen Stärken der einzelnen Harmonischen soll es offenbar ankommen, so daß er mühelos einen heftig klirrenden kleinen Röhrenverstärker loben kann, der den Meßwerten zufolge aber wohl eher deswegen gefällt, weil er schönfärberische, als "warm" empfundene Harmonische zweiter Ordnung produziert, und zwar umso mehr, je niederohmiger die Last ist. Das ist alles überhaupt keine Überraschung, und so oder so ähnlich schon vor vielen Jahrzehnten diskutiert worden.

Die Stereoplay erfindet solche Theorien natürlich nicht einfach so. Wie schon beim Brinkmann-Verstärker anno 2009 gab auch diesmal wieder ein Verstärker aus einem aktuellen Test den Anstoß, sich eine dazu passende Theorie zusammenzudichten. Der in der diesjährigen Aprilausgabe getestete Unison-Röhrenverstärker ist genau dieses Klirrmonster, das schönerklärt werden mußte, und wie man das macht sieht man an dem für Unison erstellten Sonderdruck.

Es ist das bekannte Bild: Man testet ein Gerät, das aus irgendeinem Grund gefällt, und für das man nicht einfach schlechte Meßwerte stehen lassen kann. Also erfindet man eine Theorie, mit denen man die Meßwerte uminterpretieren kann, und die das Gerät allen konventionellen Ansichten zum Trotz gut aussehen läßt. Das war beim Brinkmann so, und das ist dann wieder beim Unison so gewesen. Ich bin schon gespannt, wnn man das nächste Mal bei Stereoplay einen Verstärker testet, für den man die passende Theorie dazu erfinden muß. Hemmungen scheinen da ja keine mehr zu existieren.


Wie üblich: Kommentare hier.

Sonntag, 15. Juli 2012

Einbildungsberatung

Mit der Zeit denkt man, man hätte alles gesehen, und es wiederholt sich nur immer auf's Neue. Manchmal begegnet einem aber dann doch eine neue Variante, die man noch nicht kannte.

So geht's mir mit dem Auftritt von Janus525 im Hifi-Forum, ein Teilnehmer mit dem ich mich hier im Blog schon einmal vorletztes Jahr beschäftigt habe. Es handelt sich um einen ehemaligen Verkaufspsychologen, der seiner eigenen Angabe nach genug Geld verdient hat, und sich nun ohne wirkliches finanzielles Interesse mit HiFi amüsiert, und eine Art "Beratungsgeschäft" betreibt, mit dem er Leuten auf die Sprünge helfen will, die sich durch untaugliche Optimierungsversuche an ihrer eigenen Anlage frustriert haben, und nun nach neuen Ansätzen suchen.

Das wirkt auf den ersten Blick fast unwirklich selbstlos, weshalb es von Anfang an nicht gefehlt hat an Leuten, die ihm seine Haltung nicht abkaufen, mich natürlich eingeschlossen. Angesichts seiner intensiven Bemühungen, mit der richtigen Pose aufzutreten, ist der Zweifel nicht schwer zu verstehen.

Er macht es aber sehr geschickt, das muß man anerkennen, und der Verkaufspsychologe in ihm hat spürbar Spuren hinterlassen. Keine Sorge, für mich besteht keine Gefahr: Ich traue ihm nicht weiter als ich ihm werfen kann. Aber ich komme doch nicht umhin ein paar bemerkenswerte Eigenheiten herauszustellen.

Eines seiner Hauptthemen ist der Kabelklang, also ein originär audiophiles Voodoo-Thema. Er hört natürlich wie andere audiophile Kollegen auch Klangunterschiede zwischen Kabeln. Wird er darauf angesprochen, kommt unweigerlich ein Lobgesang auf ein paar exotische Kabeltypen, die er bevorzugt, und über die er die ganze Schwurbel-Litanei herunterbetet wie jemand der das Ganze für bare Münze nimmt. Das in diesem Zusammenhang immer kommende ungefragte "Name-Dropping" ist typisch audiophil, man definiert sich da ja oft darüber, welche angesagten oder exotischen Markennamen man fehlerfrei aufsagen kann.

Tut er aber nicht, jedenfalls nicht so wie der übliche Audiophile. Er glaubt nicht an Kabelklang, jedenfalls nicht an technischen Kabelklang. Also Kabelklang aufgrund von irgendwelchen behaupteten oder tatsächlichen technischen Kabelparametern, seien es nun die normalen Parameter wie Widerstand, Kapazität etc., oder das Voodoo-Zeugs wie Skineffekt, Kristallstrukturen, Mikrofonie und dergleichen. Er macht seinem Pseudonym alle Ehre, denn an den "Techniker" (aka "Holzohr") gewandt sagt er: "Du hast recht, es gibt keinen Kabelklang, die technische Betrachtung der Kabel gibt das nicht her. Kabelklang entsteht nicht im Kabel, sondern im Kopf des Hörers." Zugleich sagt er dem kabelklanghörenden "Goldohr" das scheinbare Gegenteil: "Du hast recht, es gibt Kabelklang, viele Leute hören ihn, er entsteht in Deinem Gehirn, und Du kannst Ihn Dir zunutze machen. Ich kann Dir zeigen wie, auch wenn es da noch viel zu forschen gibt."

Die sich inzwischen sehr in die Länge ziehende Diskussion im HiFi-Forum zeigt, welche Schwierigkeiten viele Teilnehmer mit dieser auf den ersten Blick widersprüchlich wirkenden Position haben. Janus525 verströmt zu 100% den audiophilen Stallgeruch in Gehabe und Argumentation, aber wenn man darauf herein fällt und ihn wie einen solchen behandelt, dann kann er immer wieder darauf verweisen daß er die audiophilen Positionen überhaupt nicht vertrete. Wieder und wieder entgegnet er: "Du täuschst Dich in mir! Sieh her, ich vertrete ja Deine Position: Es gibt keinen Kabelklang! Wir haben gemeinsame Ansichten und auch Ziele, denn wir wollen beide vor den Quacksalbern mit ihren falschen Behauptungen warnen."

Interessanterweise führt dieser Winkelzug mitnichten zu Problemen mit der audiphilen Klientel, die ja eigentlich aufbegehren müßte wenn man die Realität des Kabelklangs abstreitet. Nicht einmal diejenigen, die ganz ausdrücklich mit den diversen technischen Erklärungen der Kabelhersteller sympathisieren, und entsprechende Begründungen vorbringen (Skineffekt, Magnetfelder, Mikrofonie und der ganze Scheiß), wehren sich gegen Janus525. Er kann in diesem Fall das Gleiche schreiben wie die Holzohren, aber er eckt damit bei keinem Audiophilen an. Bemerkenswert, nicht?

Es ist aufschlußreich, sich zu überlegen woran das wohl liegt. Ich habe Erklärungsmöglichkeiten anzubieten, erfahre aber gern auch Eure, wenn Ihr noch weitere findet, wie auch Eurer Meinung zu den meinen.

1. Die Finte.

Der Audiophile glaubt, daß Janus das ohnehin nicht ernst meint, sondern daß es eine Art von Gambit ist, also ein Opfer einer unbedeutenden Figur zugunsten eines Stellungsgewinns in der ganzen Auseinandersetzung. Das "Holzohr" greift eine wertlose Position an, und kann damit zum Narren gehalten werden, während die eigentlich entscheidende Position umso besser verteidigt werden kann.

Mit anderen Worten: Janus525 kann leicht sagen, technischen Kabelklang gebe es nicht, denn diese technische Argumentation ist ihm ohnehin völlig egal. Er hat verstanden daß auch dem Audiophilen diese technische Argumentation im Grunde egal ist, und macht ihm vor wie man das zu einem taktischen Vorteil in der Diskussion machen kann. Die meisten Audiophilen haben zwar Sehnsucht nach einem technisch-wissenschaftlichen Erklärungsmodell für ihre Wahrnehmungen, damit sie aus dieser unbequemen Einbildungsecke heraus kommen, aber man sieht ja täglich wie wenig sie in der Lage sind, bei solchen Erklärungsmodellen zwischen blankem Unfug und stichhaltiger Argumentation zu unterscheiden. Janus macht ihnen vor, daß sie im Grunde gar nichts verlieren, wenn sie solche Argumentationsversuche fahren lassen.

Die entscheidende Position, die letztlich verteidigt wird, ist daß es Kabelklang eben schon gibt, aber nicht da wo er laut "Holzohr" nicht sein kann, nämlich im Kabel, sondern im Kopf des Hörers, wo man meßtechnisch (angeblich) nicht an ihn heran kommt. Dem "Holzohr" sagt man damit: "Kabelklang gibt's, aber Du hast mit Deinen Methoden und Fähigkeiten keinen Zugriff darauf, und suchst dauernd an der falschen Stelle." Das ist eine originär audiophile Position, und der elitäre Appeal dieser Haltung wiegt den Verzicht auf technische Erklärungen für den Audiophilen bei weitem auf. Das ist letztlich die Kalkulation, die Janus' Finte zugrunde liegt.

2. Die Umdeutung des Existenzbegriffs

Das Spannungsfeld, in dem der Audiophile gefangen ist, befindet sich zwischen dem was tatsächlich existiert, und dem was bloß eingebildet ist. Für das Ego des Audiophilen ist entscheidend, daß das was er wahrnimmt nicht eingebildet ist, sondern real. Wenn jemand unterstellt, der Audiophile könne sich Klangwahrnehmungen "nur" eingebildet haben, dann ist er unweigerlich beleidigt. Daß es Einbildung gibt, bzw. geben kann, wird er zwar nicht bestreiten, daß es aber in seinem eigenen Fall Einbildung gewesen sein könnte wird er entschieden zurückweisen. Was sich so echt anfühlt kann nicht eingebildet sein.

Wenn man also nicht nachweisen kann, daß eine Klangwahrnehmung keine Einbildung war, sondern eine tatsächlich existierende Ursache hatte, dann kann man das Problem mit dem drohenden Einbildungsvorwurf  immer noch umgehen, wenn man a) darauf hinweisen kann, daß es so einen Nachweis wegen praktischer Hindernisse gar (bzw. noch) nicht geben kann, und b) den Begriff der "Existenz" so weit ausweitet, daß darunter auch solche rein wahrgenommenen Erscheinungen fallen (die also auf keine externe Ursache zurückgehen).

Es sollte unmittelbar einleuchten, welche Attraktion ein Existenzbegriff auf den Audiophilen ausübt, der Dinge umfaßt die man aus Prinzip nicht nachweisen kann. Hat man einmal erreicht daß eine entsprechende Begriffsdefinition in der Diskussion akzeptiert wird, dann steht der Weg offen um alles für existent hinzustellen, was einem vorschwebt. Jegliche unabhängige Nachprüfung hat man ja gleichzeitig für unmöglich erklärt. Daher rührt die große Hartnäckigkeit und Kreativität, die manche Audiophile an den Tag legen, um so einen passend gedehnten Existenzbegriff in die Diskussion zu pressen.

Man könnte darüber fast aus dem Blickfeld verlieren, daß auf diese Weise die Grenzlinie zwischen Realität und Einbildung immer mehr verschwimmt. Worin genau unterscheiden sich Einbildungen von "echten" Wahrnehmungen, wenn es für Letztere keine externen Ursachen braucht? Wie kann man dann noch sagen worum es sich handelt? Gibt es dann überhaupt noch Einbildungen, oder wird das dann alles zu einem Teil dessen was man Realität nennt?

Janus525 macht mit seiner Verlagerung des Kabelklangs in das Gehirn dem Audiophilen genau dieses Angebot: Ein erweiterter Existenzbegriff ohne Gefahr der Nachprüfbarkeit. Es ist eine Art von innerem Reservat, in dem Einbildungen für real existent gelten können, ohne daß das einen Widerspruch produzieren würde.

3. Faszinosum Gehirn

Angesichts von galoppierenden Fortschritten in der Hirnforschung sieht es so aus als könne man sich nicht sicher sein daß diese Nachprüfbarkeit nicht bald kommen wird. Eigentlich müßten sich die Audiophilen daher vor der Hirnforschung fürchten. Sie erwecken aber gerne den gegenteiligen Eindruck. Das ist ebenfalls ein bemerkenswerter Aspekt.

Das Gehirn hat in audiophilen Kreisen schon seit einiger Zeit beträchtlich Konjunktur. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, daß einige Audiophile ihr Gehirn für eine Besonderheit halten, etwas was man eigentlich genauer untersuchen müßte, wobei dann bestimmt heraus kommen würde daß dort ganz spezielle Fähigkeiten zu finden sind. Überlegene Fähigkeiten.

Dabei kommt einem zugute, daß Gehirnforschung ein schwieriges Thema ist, und man alle möglichen eigenen Wunschvorstellungen hinein projizieren kann. Man braucht da nicht befürchten, daß einem das widerlegt wird. Zugleich kann man bei den einfachsten Plattitüden verharren und so tun als wären sie eine Bestätigung der eigenen Sichtweise.

So kann man sich aus einer Kombination von ein paar ziemlich inhaltsleeren Sprüchen ein praktisch unangreifbares audiophiles Weltbild zimmern:
  • Der Klang entsteht im Gehirn.
  • Man weiß noch lange nicht genug über das was im Gehirn bei der Musikwahrnehmung passiert.
  • Das Gehirn hat erstaunliche Fähigkeiten, die noch nicht ausreichend verstanden sind.
Daraus folgt: Kabelklang gibt es, auch wenn man ihn nicht messen kann.

Wobei der wichtigste Aspekt dabei zu sein scheint, daß es die Audio-Meßtechnik ist, die man damit umgehen will. Das reicht, weil die Art von Meßtechnik, mit der man dem Gehirn auf die Pelle rücken könnte, sowieso jenseits jeder praktischen Reichweite der Diskussionsteilnehmer ist.

Mit den tatsächlichen Erkenntnissen der Hirnforschung hat die ganze Diskussion dennoch nichts zu tun. Von den ernst zu nehmenden Wissenschaftlern in diesem Bereich käme vermutlich keiner auf die Idee, seine Erkenntnisse oder potenziellen Erkenntnisse würden für die Existenz mysteriöser Klangeffekte in Kabeln sprechen, die sich der klassischen Meßtechnik entziehen.

4. Gehirn und Psychologie

Es dürfte klar sein, daß Einbildung ebenso eine Gehirnleistung ist wie die Wahrnehmung tatsächlich vorhandener äußerer Reize. Wenn man den entscheidenden Punkt der Betrachtung ins Gehirn selbst verlegt, und damit den äußeren Reiz aus dem Blickfeld nimmt, dann ist klar daß der Unterschied zwischen einer Einbildung und einer Wahrnehmung äußerer Reize verschwimmt. Der Unterschied besteht ja gerade darin, ob es eine äußere Ursache gibt oder nicht.

Das heißt umgekehrt, daß jemand, der herausfinden will, ob etwas eingebildet ist oder nicht, außerhalb des Gehirns suchen muß und nicht im Gehirn. Die Fokussierung der Diskussion auf die Gehirnleistungen und die bei der Wahrnehmung entstehenden Empfindungen verhindert es geradezu, daß man bei der Frage weiterkommt ob etwas eingebildet ist oder nicht.

Es kann natürlich sein daß man wirklich an der Wahrnehmungspsychologie interessiert ist, und dabei z.B. womöglich auch an gegenseitigen Einflüssen verschiedener Sinne aufeinander. Das kann ein spannendes Wissensgebiet sein, bloß hat das mit der ursprünglichen Frage nichts mehr zu tun, z.B. der nach der Existenz von Kabelklang.

Verlockend ist dabei, daß man von den Wahrnehmungen, Eindrücken und generell den Leistungen des Gehirns in einer pseudo-objektiven, vom eigenen Ego scheinbar entkoppelten Sprache reden kann, und sich damit vormachen, das hätte den gleichen faktischen Gehalt wie äußere, meßbare Erscheinungen. Eine reine Einbildung, die vielleicht in Wirklichkeit weit mehr von eigenen Vorlieben, Wunschvorstellungen, Ängsten und Projektionen bestimmt ist als von äußeren Reizen, kann man dann immer noch als eine Gehirnleistung darstellen, die eine vom eigenen Selbst quasi unabhängige objektive Realität hat.

Natürlich sind psychologische Prozess auch Leistungen des Gehirns, und als solche mit entsprechendem Aufwand technisch untersuchbar, aber dadurch wird nicht die Verbindung zur Psychologie des Menschen aufgehoben. Eine Einbildung ist immer noch eine Einbildung, selbst dann wenn man die mit ihr verbundenen Hirnaktivitäten "objektiv" messen kann. Die objektive Messbarkeit der Hirnaktivität einer Wahrnehmung macht noch lange nicht das Wahrgenommene zur objektiven Realität. Im Gegenteil: Man kann mit solchen technischen Mitteln auch Wahrnehmungen aus dem Nichts erzeugen. Der Unterschied zur Wahrnehmungsbeeinflussung durch Drogen ist da nicht gar so groß.

5. Glück und Lebensfreude

Es ist kein Zufall, daß ich auf das Thema Glück und Lebensfreude gerade dann komme wenn ich das Wort "Drogen" erwähnt habe, was aber nicht auf die ganz direkte Art verstanden werden sollte. Es ist auch kein Zufall, daß diese Begriffe beim Thema Kabelklang bemüht werden, obwohl es auf den ersten Blick nichts damit zu tun hat.

Daß sich ein Audiophiler für glücklicher oder zumindest glücksfähiger hält als der gern als verbissen und engstirnig hingestellte Techniker ist ja nichts Neues, und kann mit dem altbekannten audiophilen Narzissmus begründet werden. Wenn jedoch ein Janus525 ins gleiche Horn bläst steckt ein bißchen mehr dahinter. Er vertritt die Position, man könne sich den gar nicht wirklich vorhandenen Kabelklang, also die Einbildung von Kabelklang, oder nochmal anders ausgedrückt den "Gehirnklang" (das böse Wort "Einbildung" muß ja unbedingt vermieden werden), auch planmäßig zu Nutze machen. Im Grunde ist das wie ein Tuning, aber nicht ein Tuning der Anlage, sondern ein Tuning der Wahrnehmung der Anlage. Man tunt sich gewissermaßen selbst.

An der Stelle wird auch die Verbindung zur Droge klarer. Drogen werden gelegentlich als Mittel zur "Bewußtseinserweiterung" verwendet, was ja ebenfalls eine Art von "Selbst-Tuning" ist. Egal wie man nun den "Trip" erzeugt, das darunter liegende Motiv ist im Grunde immer das Gleiche. Wenn man mit der Realität ein Problem hat, und der Versuch, die Realität zu ändern, aussichtslos oder zu anstrengend wäre, dann ändert man einfacher seine Wahrnehmung, und erreicht Glück und Zufriedenheit eben auf diesem Weg.

Ich bin da noch nicht einmal prinzipiell dagegen. Ich bin kein puritanischer Genußverweigerer und Moralapostel, der am liebsten jede Droge und jeden Selbstbetrug von der Erdoberfläche verbannen will. Es würde auch gar nicht funktionieren wenn ich es wollte, und ich würde mir dabei selbst Gewalt antun. Ich halte es aber gerade deshalb für wichtig, sich über den Mechanismus klar zu werden, der hier abläuft, und das Risiko das man dabei eingeht. Von so gut wie jeder wahrnehmungsverändernden Droge (und "audiophile" Kabel zähle ich im Moment mal dazu, nicht aus eigener Überzeugung, sondern nur mal um damit Janus' Argumentation zu folgen) haben Andere mehr Nutzen als der Konsument. Über kurz oder lang hat der Konsument üblicherweise sogar das Gegenteil, nämlich den Schaden. Insofern wird das Selbst-Tuning schnell mal zum Selbst-Betrug, der Übergang ist jedenfalls fließend.

Dabei kann man in dieser Sache sogar stark bezweifeln, ob diese "Droge", also ein Kabel, überhaupt in der versprochenen Weise wirkt. Ich behaupte, die Wirkung ist ziemlich flüchtig und unzuverlässig, wenn überhaupt vorhanden. Janus wird zwar nicht müde so zu tun als wäre eine planmäßige, zielgerichtete Erzeugung wunschgemäßer Klangillusion bei richtiger Vorgehensweise möglich, und zwar ganz ausdrücklich auch mit Hilfe von Kabeln, aber es gibt keinerlei Nachweis daß da etwas dran ist. Man muß es ihm einfach glauben, und ich glaube es ganz bestimmt nicht.

Klarer wird die Sache schon wenn man sich überlegt, wer denn wohl von der Droge profitiert, wenn es schon nicht der Konsument ist, und wie er davon profitiert. Das muß nicht der offensichtlichste Weg sein. Janus braucht nicht selbst als Kabelhändler aufzutreten, um zu den Profiteuren zu gehören. Auch das scheint wieder einige seiner Kritiker vor Schwierigkeiten in der Diskussion zu stellen. Man kauft ihm nicht ohne Weiteres ab daß er nicht am Verkauf von Kabeln interessiert ist, und er kann die daraus immer wieder entstehenden "Mißverständnisse" zu seinem Vorteil nutzen.

Es gibt aber eine ganze Reihe etwas indirekterer Methoden, um aus dem Selbst-Betrug zu profitieren. Ein Beispiel sind schon lange die HiFi-Zeitschriften. Sie verkaufen keine Kabel, machen sich aber zum Marketing-Instrument derjenigen, die welche verkaufen. Wenn nun auch in Internet-Foren Hersteller unterwegs sind, um dort auf versteckte oder offene Art für ihre Produkte zu werben, warum sollte es nicht auch dort "Lobbyisten" geben, die das stellvertretend betreiben? Nicht bei jeder Marketingaktivität geht es unmittelbar um den Verkauf eines Produktes. Immer mehr geht es schon im Vorfeld darum, den Markt für eine Produktkategorie vorzubereiten, ihn aufnahmefähig zu machen. Ein Klima zu schaffen in dem das Produkt auch ein gutes Image hat, mit den richtigen Assoziationen verknüpft wird, und das entsprechende Bedürfnis erweckt.


Janus525 ist ein Verkaufspsychologe, ihm ist mit Sicherheit diese indirektere Linie des Marketing nicht fremd. Im Grunde verkörpert er in der Diskussion diese Prinzipien selbst, denn man erkennt leicht wie sehr ihm bei allen Beiträgen das Image, und die Pose, wichtig ist. Wichtiger als das konkrete Argument auf alle Fälle, denn man stellt mit der Zeit fest, wie sich seine Argumente mit der Situation wesentlich leichter zu ändern scheinen als seine Selbstdarstellung. Die eigentliche "Message" ist dabei eine soziale, viel mehr als eine inhaltliche. Es geht darum sich als Rollenmodell ins Spiel zu bringen. Dort liegt der eigentliche Kern seiner Selbstdarstellung, und der verändert sich auch nicht wesentlich über die Zeit. Er sagt damit: "Schau her, ich bin der entspanntere, geistig flexiblere, wahrnehmungsfähigere, genußfähigere, erfolgreichere und glücklichere Mensch, weil ich mich dem 'Erlebnis Kabel' nicht verschließe. Du kannst das auch sein, wenn Du mir folgst".

Der Unterschied zur Zigarettenwerbung ist da nicht mehr groß, wo die Message sein könnte: "Schau her, ich bin der geselligere, individuellere, kreativere, genußfähigere, coolere, erfolgreichere und zufriedenere Mensch, weil ich mich dem Rauchen nicht verschließe. Du kannst das auch sein, wenn Du es so machst wie ich." Zigarettenwerbung ist zu einem großen Teil nicht Produkt- oder Markenwerbung. Es ist Werbung für das Rauchen als solches, oder genauer gesagt der Versuch, die Impulskontrolle psychologisch zu unterlaufen.

Janus525 präsentiert sich als eine Art von Kundenberater, der Endkunden dabei hilft, aus ihrer Anlageninstallation das (subjektive) Optimum herauszuholen, und zwar ohne Bezug zu konkreten Komponentenherstellern. Das mag stimmen, wirkt aber auf mich nicht besonders überzeugend. Wer so eindeutig auf die indirekte Marketing-Schiene setzt, empfiehlt sich eher als eine Art von Lobbyist, ein "Spin-Doctor", der im Auftrag und auf Rechnung für Hersteller arbeitet, die von solcher "Marktpflege" abhängen, sie aber selbst nicht so erfolgreich betreiben könnten. Andere Branchen kennen das schon länger, vielleicht ist es an der Zeit, denkt wohl Janus525, daß diese Methode auch im HiFi-Bereich Fuß faßt.

Wie gut seine Denkweise dazu paßt, kann man an einem kürzlichen Beitrag sehen. Ich denke es wird klar, daß die scheinbaren Widersprüche, die zwei Gesichter des Janus, eigentlich keine sind. Es paßt schon alles zusammen, ob man das nun gut findet oder nicht.


Was meint Ihr dazu?

Freitag, 9. März 2012

Über Abtastraten und zeitliche Auflösung

Zu den hartnäckigsten Mißverständnissen bei Digital-Audio gehört der Mythos, daß die "zeitliche Auflösung" durch die Abtastfrequenz begrenzt ist. Daß also z.B. die CD mit ihren 44,1 kHz nur bis zu etwa 22 µs auflösen kann.

In der einfachsten Form (und viele Audiophile kommen nur so weit) geht das Argument so, daß das menschliche Ohr angeblich 10µs (oder gar noch weniger) noch auflösen könne, was schon seit langem bekannt sei, und daß deswegen die Abtastrate entsprechend hoch sein müsse, als z.B. 96 kHz oder gar 192 kHz.

Ich hatte darüber 2008 im Hifi-Forum schon mal eine Auseinandersetzung mit Ralf Koschnicke von Acousence, in der er - ausgehend von seinem Artikel im Studio Magazin - die Trommel rührte für höhere Abtastraten, und damit letztlich für die Produkte seiner Firma. Ich hatte damals wenigstens einen Teilerfolg, da er einen besonders klar sichtbaren Denkfehler zugab, was ihn aber in der Folge nicht davon abgehalten hat, mit entsprechend nebulöserer Argumentation weiterhin dasselbe zu behaupten. Nicht daß mich das wirklich überrascht hätte.

Den Anlaß zu diesem Blog-Artikel gab aber letztlich, daß ich über Jakob auf die Artikel eines Dr. Kunchur aufmerksam wurde, der vor ein paar Jahren zwei wissenschaftliche Fachartikel über von ihm durchgeführte Untersuchungen veröffentlichte, in denen er aus einem von ihm gefundenen Auflösungsvermögen des menschlichen Ohres von etwa 5 µs ebenfalls auf die Forderung nach höheren Abtastraten als bei der CD kam. Ich weiß nicht wie mir diese Artikel bisher entgehen konnten (einen Artikel hatte ich auf der Festplatte, aber anscheinend vergessen), denn wie ich inzwischen gefunden habe, haben sie insbesondere im englischsprachigen Hifi-Forums-Zirkus beträchtlichen Wirbel gemacht. Besonders im Stereophile-Forum ging's voll zur Sache, als ein paar Leute, allen voran James Johnston, es doch tatsächlich gewagt hatten, des Doktors Untersuchungen zu kritisieren, und die Fehlschlüsse ans Licht zu zerren. Das macht die Sache nicht bloß auf der trocken-technischen Ebene interessant, sondern zeigt auch eindrucksvoll, wie sich die feingeistige Audiophilen-Elite gegen das grobe Techniker-Gesocks zur Wehr setzt. Oder war's doch andersrum?

Aber zunächst soll es um den Inhalt dieser Untersuchungen gehen. Im ersten Artikel von 2007 benutzt Kunchur eine Versuchsanordnung, bestehend aus zwei Hochton-Lautsprechern, die übereinander gestellt werden, und mit dem gleichen Signal angesteuert werden. Der obere Lautsprecher kann gegenüber dem unteren einige Millimeter vor- und zurück geschoben werden, so daß sein Signal geringfügig früher oder später am Ohr des genau horizontal 4,3m entfernten Hörers ankommt. Eine Verschiebung von einem Millimeter entspricht wegen der Schallgeschwindigkeit einer Laufzeit von etwa 3 µs. Die Verschiebung des Lautsprechers geschieht automatisch im Verlauf des Blindtests, und zwar ohne Unterbrechung des Schalls, um eine möglichst nahtlose Vergleichsmöglichkeit zu schaffen. Als Testsignal wird ein Rechtecksignal von 7 kHz verwendet, das über  breitbandige analoge Elektronik erzeugt und verstärkt wird. Im Signalweg befindet sich also keine Digitaltechnik. Mit dieser Anordnung wurden mit 5 Personen Blindtestreihen durchgeführt, bei denen für 6 verschiedene Verschiebungen des oberen Lautsprechers je 10 Versuche gemacht wurden, um die kleinste Verschiebung zu finden, die mit statistsicher Signifikanz noch unterschieden werden kann. Im Ergebnis wurde die Verschiebung bis herunter zu 2,3 mm sicher detektiert, eine Verschiebung von 2,0 mm wurde immerhin noch von einem Subjekt detektiert. Kunchur folgert daraus eine Hörbarkeitsschwelle für "Zeitfehler" von ca. 6 µs.

Im zweiten Artikel von 2008 benutzt Kunchur eine andere Versuchsanordnung, und ersetzt die Lautsprecher durch ein einfaches RC-Glied als Tiefpaßfilter, das er im Rahmen der Blindtests ein- und ausschalten kann. Abgehört wird diesmal über Kopfhörer. Wieder benutzt er breitbandige Analogelektronik, und arbeitet mit dem 7 kHz Rechtecksignal. Durch Variation des Widerstandswertes im RC-Filter kann die Zeitkonstante des Filters gewählt werden, und Kunchur versucht wiederum durch Blindtestreihen herauszufinden, welches die kleinste Zeitkonstante ist, die mit statistischer Sicherheit noch unterscheidbar ist. Das Ergebnis zeigt daß 4,7 µs in etwa die Grenze darstellt. Weitere Blindtests sollten sicherstellen, daß es nicht Artefakte aufgrund des Umschaltens waren, die zur Hörbarkeit führten.

Beide Artikel sind in wissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen, in denen die Artikel vor der Veröffentlichung begutachtet werden ("peer-review"), um die Einhaltung wissenschaftlicher Standards zu gewährleisten. Trotzdem gibt's an beiden Arbeiten einiges auszusetzen, wie ich noch zeigen werde. Kunchur hat noch einen Vortrag auf einem Treffen der "Acoustical Society of America" gehalten, und dafür einen Konferenzbeitrag geschrieben (dort dürfte es kein "peer-review" gegeben haben). Die Diskussionen in amerikanischen Foren haben außerdem zu einer Antwort in Form eines FAQ-Papiers geführt. Einige Zeit danach schließlich trat Kunchur noch auf der AES Convention in London auf, wo er im Rahmen eines Workshops eine kurze Einführung gab.

Welche Fehler sehe ich?
  1. Es ist nicht klar, ob die in den Blindtests gehörten Unterschiede überhaupt auf das Konto der Zeitverschiebung gehen, oder ob sie nicht stattdessen z.B. aufgrund von Amplitudenunterschieden zustande kommen.
  2. Die Annahme, daß die Zeitabstände der Abtastungen in einem digitalen Audiosystem eine Grenze für die Auflösung von Zeit- oder Phasenverschiebungen darstellen, ist falsch. Das Mißverständnis mag weit verbreitet sein, und auch den einen oder anderen Fachmann betreffen, aber das macht es nicht richtiger.
Daneben finde ich noch, daß die Wahl eines 7 kHz Rechtecksignals unzureichend begründet und recht eigenartig ist. Die damit zusammenhängenden Erklärungen, speziell warum ein analoger Generator anstatt eines digitalen verwendet wurde, lassen bei Kunchur darüber hinaus noch weitere Defizite im Verständnis von digitalem Audio erkennen.

Zum ersten Problem:

Beide Versuchsanordnungen verursachen nicht nur eine Zeitverschiebung, sondern auch eine Amplitudenänderung. Es ist also nötig, zu klären welcher der beiden Effekte tatsächlich gehört wurde. Bei beiden Versuchen ergibt sich ein Amplitudenunterschied an der Detektionsgrenze der Blindtests, der bei ca. 0,25 dB liegt. Das ist besser als der aus älteren Untersuchungen für 7 kHz bekannte Wert von 0,7 dB, den Kunchur anführt. Für ihn ist das der Anlaß, den Amplitudenunterschied als Ursache auszuschließen, aber das ist eine fadenscheinige Begründung, denn der Wert der Zeitauflösung, den er als detektierbar findet, ist ja auch besser als die bisher bekannten Schwellen. Warum soll es also ausgerechnet die Zeitdifferenz sein, und nicht die Amplitudendifferenz, wenn doch bei beiden das gleiche Argument angewendet werden könnte? Kunchur's Wahl ist willkürlich. Er hätte zusätzliche Versuche machen sollen, die die Entscheidung zwischen den beiden Alternativen erlauben. Im Falle des RC-Glieds wäre das sogar sehr einfach gewesen.

Zum zweiten Problem:

Das ist eigentlich die kniffligere Sache und für viele Leute geht es gegen ihre Intuition. Die Probleme fangen schon damit an was mit dem Begriff "Auflösung" genau gemeint ist.

Manchmal wird damit die Frage verbunden, wie dicht nacheinander zwei scharfe Impulse kommen dürfen, damit man sie noch als zwei Impulse voneinander unterscheiden kann, anstatt sie als einen einzelnen verschmolzenen Impuls wahrzunehmen. Das ist für's Gehör aber eine ziemlich irrelevante Betrachtungsweise in unserem Fall, denn bevor das Gehör Impulse voneinander getrennt wahrnimmt, müssen sie sehr viel weiter voneinander entfernt sein, als 22 µs. Deshalb zeigt man da auch eher Oszilloskopbilder oder Bilder vom Computerbildschirm aus der Audio-Software. Da sieht man dann ab wann zwei Impulse optisch miteinander verschmelzen, wenn man sie immer näher zusammenrückt. Man sollte sich aber hüten, aus der optischen Erscheinung auf die akustische zu schließen.

Kunchur tut das auch nicht, aber wenn es nicht darum geht zwei Impulse voneinander zu trennen, sondern nur darum daß der Zeitabstand in das Gesamtergebnis eingeht, auch wenn er kleiner als 22 µs ist, dann ist die Abtastung der Digitaltechnik kein Hindernis. Der Abtastvorgang verursacht keine weiteren Einschränkungen als es die Bandbreitenbegrenzung ohnehin tut, die man vor der Wandlung machen muß. Die zeitliche "Verschmierung" von der er redet, ist eine direkte Folge der Bandbreitenbegrenzung, und damit kein Digital-Effekt. Die Effekte einer Tiefpaßfilterung wie mit dem RC-Glied, oder die Überlagerung zweier Wellenfronten wie im Versuch mit den zwei Lautsprechern, sind bandbreiten-neutral. Man kann mit solchen Versuchen daher nicht zeigen, daß man eine bestimmte Mindest-Bandbreite braucht, und folglich auch nicht daß man eine bestimmte Mindest-Abtastrate braucht.

Beispiel Lautsprecher-Versuch von Kunchur. Die beiden Lautsprecher führen zu einer Überlagerung der Wellen vor den beiden Lautsprechern, und der Effekt ist eine Richtwirkung in der Vertikalen. Es ist das Prinzip hinter den sog. "Line-Arrays", einem Stapel senkrecht übereinander angeordneter Lautsprecher. Wenn man einen Lautsprecher etwas vor oder zurück verschiebt, dann hat das Auswirkungen auf die Richtwirkung. Die Richtung wandert nach oben oder unten, das heißt daß in der horizontalen Hörposition der Pegel kleiner wird. Die Richtwirkung ist frequenzabhängig, genauer gesagt abhängig vom Verhältnis der Wellenlänge des Audiosignals zum Abstand der Lautsprecher.

Wegen der Verwendung von Rechtecksignalen könnte man argumentieren, daß die Verschiebung des Lautsprechers zur Folge hat, daß nun anstelle einer Wellenfront zwei kurz hintereinander folgende Wellenfronten am Ohr ankommen, und daß es das ist was das Ohr unterscheiden kann. Das wurde aber weder nachgeprüft, noch ist es auf eine Distanz von über 4 Meter zu erwarten.

Das Sonstige:

Kunchur hat nicht wirklich schlüssig erklärt wieso er Rechtecksignale benötigt. Er scheint Wert auf eine schnelle Anstiegszeit zu legen, aber man erfährt nicht warum das wichtig sein soll, bzw. welche Anstiegszeit man braucht um einen negativen Einfluß auf den Ausgang des Versuchs zu vermeiden. Man hat den Eindruck, es läuft nach dem Motto: Je schneller je besser. Das muß noch kein Problem sein, aber die Erklärungen, die man von ihm im Konferenzbeitrag zum Thema analoge vs. digitale Rechteckgeneratoren liest, läßt sein Verständnis von digitaler Signalverarbeitung in einem ziemlich schlechten Licht dastehen, und zeigt daß er einigen der Irrtümer und Denkmuster unterliegt, die man auch bei Audiophilen findet.

So behauptet er beispielsweise, man könne nur unter großen Schwierigkeiten eine exakt periodische Signalform auf digitalem Weg erzeugen und Jitter sei dabei ein sehr ernstes Problem. Um das plausibler zu machen, führt er als Beispiel den Rechteck-Generator in SoundForge an, einem Audio-Editor für den PC, der in dieser Hinsicht mit Audacity vergleichbar ist, wie ihn vielleicht mehr Leute kennen werden. Der da vorgestellte Generator ist so naïv implementiert, daß er unter ernsten Aliasing-Effekten leidet. Das ist kein Beispiel mit dem man die Digitaltechnik im Ganzen diskreditieren könnte. Mit SoundForge könnte man sowieso kein Rechtecksignal erzeugen, das seinen Vorstellungen von Flankensteilheit auch nur annähernd entsprechen würde, denn dafür ist die Bandbreite viel zu niedrig. Das heißt aber nicht daß es so etwas nicht geben würde. Kommerzielle Arbiträrgeneratoren können so etwas ohne große Probleme. Eine Abtastrate von 40 MHz wäre dem von ihm verwendeten Analoggenerator ebenbürtig bei der Flankensteilheit, und würde beim Jitter erheblich besser abschneiden, als Kunchur's Analoggenerator. Der ist nämlich beileibe nicht besonders jitterarm, wenn man seine eigenen Angaben zugrunde legt. Das sind solche Analoggeneratoren eher selten. Beispiel für einen geeigneten Digitalgenerator: Der Agilent 33120A, ein sehr verbreitetes Gerät.

Mein Fazit:

Die Artikel von Kunchur geben das nicht her, was er selbst als Schlußfolgerungen zieht, insbesondere nicht die Notwendigkeit einer höheren Abtastrate als die bei der CD verwendete. Er unterliegt ein paar ziemlich fundamentalen Mißverständnissen im Zusammenhang mit digitaler Signalverarbeitung. Ich wundere mich wie er das an den anonymen Reviewern bei den Fachzeitschriften vorbei gekriegt hat, ein Ruhmesblatt für sie ist das nicht gerade.

Die Forums-Rezeption:

Das Highlight ist definitiv das Stereoplay-Forum*. Da produzieren sich ein paar ausgesprochene Arschlöcher, unter ihnen Steven Sammet von SAS Audio Labs, ein Teilnehmer unter dem Pseudonym "michiganjfrog", von dem vermutet wird es handle sich um Stereophile's Mitarbeiter Michael Fremer, oder auch "ncdrawl", der sich selber offenbar eher als neutraler Moderator versteht, aber auf einem Auge eindeutig blind ist.

Die Debatte hat aber schnell metastasiert, und fand in unterschiedlicher Giftigkeit in mindestens mal folgenden Foren statt: Gearslutz, Hydrogenaudio, Audio Asylum Propellerhead Plaza, und ich weiß nicht wo sonst.

Wer des Englischen mächtig ist, und sich das geben will, der wird sicher seine ohnehin bestehenden Vorurteile über Diskussionen mit Audiophilen in allen Punkten bestätigen können. Ich war ganz begeistert.


Ihr auch?


P.S.: Monty hat eine sehr ausführliche Seite über 24/192 geschrieben. Paßt gut hierher, braucht aber Geduld und gute Englischkenntnisse.

* Nachträgliche Korrektur: Es muß natürlich heißen "das Stereophile-Forum". Ich schätze das war ein "Freud'scher Verschreiber". :-)

Samstag, 25. Februar 2012

Heiß und leer

Audiophile sind Nostalgiker. Wie sonst könnte man auf die Idee kommen, Röhren wären die besseren Bauelemente für Verstärker?

Die Vorstellung, eine Röhre könne Audio reiner, klarer und besser verstärken als z.B. ein Transistor, ist doch schon im Ansatz widersinnig. Ich wundere mich immer wieder wieso das nicht offensichtlich ist.

Sehen wir doch mal was einem beispielhaften Elektron, das durch diese Bauelemente hindurch muß, dabei widerfährt.

In einer Triode kommt das Elektron zuerst in die Kathode, und wird dort gleich einmal auf Rotglut erhitzt, und dann rausgeschmissen. Und draußen ist's dann komplett leer! Vakuum! Grober geht's kaum, aber das ist erst der Anfang. Direkt in der Nähe ist ein Gitter, und das wirkt abstoßend, so daß das arme Elektron gleich wieder zurück zur heißen Kathode getrieben wird. Wer weiß wie oft das Elektron den Weg zurück in die Kathode machen muß, aus der es doch nur wieder rausgeschmissen wird, wie ein Betrunkener an der Bar, bevor es mal zufällig den Weg durch's Gitter findet? Das muß ja schon einmal höchst frustrierend sein!

Und kaum ist es durch's Gitter geschlüpft, wirkt auch schon die starke Anziehungskraft der Anode. Das arme Elektron wird unweigerlich mit immer größerem Tempo zu ihr hin gezogen, und schlägt da schließlich krachend ein. Die Anode wird heiß vom Geprassel der Elektronen auf der Oberfläche!

Und das soll die beste Methode sein, um zarte Klänge zu verstärken? Wer soll das glauben?

Wieviel schonender da doch ein Transistor arbeitet!

Es fängt schon damit an, daß es da weder heiß noch leer ist. Das Elektron darf drin bleiben, und es wird bloß ein Durchgang schmaler oder breiter, auf dem Weg des Elektrons ins Ziel. Keine grobe Behandlung, kein Aufschlagen auf irgendwelchen Oberflächen nach dem freien Fall durch das Nichts. Ist das nicht die wesentlich zivilisiertere Behandlung empfindlicher Signale? Ist das nicht der würdigere Umgang mit dem Heiligtum des Audiophilen?

Vielleicht sollte sich so mancher Audiophile beim Blick auf die warm glimmenden Röhren in seinem Verstärker einmal Gedanken darüber machen, was die Elektronen da drin gerade durchmachen. Es ist doch nur die Tatsache, daß man sie nicht sehen kann, die einen dabei ruhig schlafen läßt! Aus den Augen aus dem Sinn!

Es ist höchste Zeit, diese Leute einmal wachzurütteln, zumal es heute keine Notwendigkeit mehr für solch barbarische Technik gibt. Man hat im Umgang mit Elektronen heute bessere Manieren entwickelt.


Oder bin ich der Einzige, dem Elektronen etwas bedeuten? Kommentare hier.

Sonntag, 5. Februar 2012

Posthum konvertiert

Kann man einem Atheisten unterstellen, daß ihm völlig egal ist was mit ihm nach seinem Tod passiert?

Ich bin einer, und mir ist es nicht egal. Ich rede nicht von meinem Körper, obwohl ich es auch nicht gut fände wenn man mit meiner Leiche Schindluder treiben würde. Menschliche Würde hört nicht in dem Moment auf an dem die Hirnströme versiegen. Ich kann selbst nichts mehr davon wahrnehmen, und es schon gar nicht beeinflussen, aber die Aussicht darauf, daß andere Leute nur auf den Moment warten, an dem ich mich nicht mehr wehren kann, um sich über meine Interessen hinweg zu setzen und womöglich völlig falsche Legenden über mich in die Welt setzen, macht mich nervös.

Es heißt, Voltaire habe gegen Ende seines Lebens mit diesem Problem zu kämpfen gehabt. Zu seiner Zeit war die Furcht wohl auch berechtigt, man könnte ihm ein ordentliches Begräbnis verweigern, oder Schlimmeres zufügen. Vielleicht haben Gerüchte einer Bekehrung zum Christentum auf seinem Totenbett sogar Schlimmeres verhindert, obwohl ich nicht an eine Bekehrung glaube - das wäre gerade bei Voltaire unverständlich gewesen. Für gerissen genug halte ich ihn aber schon, womöglich hat er daher bewußt etwas Unsicherheit gestreut.

Es läuft mir kalt den Rücken hinunter wenn ich daran denke wie ich in einer ähnlichen Situation wohl handeln würde. Ich hoffe inständig, daß sich die Frage nie stellt, aber wenn ich mir die Nachrichten aus dem amerikanischen Vorwahlkampf ansehe bin ich mir da nicht so sicher. Mitt Romney, der im Moment wohl aussichtsreichste republikanische Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur, ist bekanntlich ein Mormone. Mormonen sind Angehörige der "Church of Latter Day Saints", und was ich bislang nicht wußte ist, daß die kein Problem damit sehen, Leute auch nach ihrem Tod noch zu taufen. So wie z.B. im Fall des Schwiegervaters von Mitt Romney, der zu seinen Lebzeiten ein überzeugter Atheist gewesen sein soll, und 14 Monate nach seinem Tod zum Mormonen getauft wurde.

Die übrige Familie seiner Frau hatten sie schon zu Lebzeiten erfolgreich zu Mormonen konvertiert, fehlte also noch der Schwiegervater. Vielleicht dachten die Romneys, daß er einfach zu früh gestorben ist, und im Falle längeren Lebens bestimmt auch noch konvertiert wäre. Daß man also mit der posthumen Taufe bloß eine Art "Mißgeschick" repariert, und dem Toten so nachträglich noch einen Gefallen tun kann. Zudem hängt ja nach religiöser Überzeugung auch sein Wohlbefinden in der Ewigkeit davon ab. Man kann also davon ausgehen, daß er die Taufe zu Lebzeiten gewollt hätte, wenn er da schon gewußt hätte wie es nach dem Tod weitergeht, nicht wahr? Die Taufe ist also im Interesse aller, auch und insbesondere des Toten selbst.

Außerdem hilft es natürlich auch der mormonischen Kirche, und den Romneys selbst. Man kann schließlich so die makellose mormonische Familie vorführen, in der alle von gleichen Glauben überzeugt sind, und der Zweifel keinen Platz hat. Alles in Ordnung also. Genau das was man für eine erfolgreiche politische Karriere braucht, und was die mormonische Kirche für ein makelloses Image braucht, nicht wahr?

Für jemanden, der in der Lage und willens ist, sich in die Haut eines Atheisten wie Schwiegervater Edward Davies oder mich zu versetzen, wird das kaum eine Beruhigung sein können. Da vertritt man zeitlebens eine klare atheistische Linie, und ist dabei tolerant genug seinen Angehörigen in diesen Dingen ihren eigenen Willen zu lassen, und muß dann befürchten, nachträglich einfach "eingemeindet" zu werden, wenn man sich nicht mehr wehren kann. Daß es posthum so hingedreht wird als habe man im Grunde genau das Gegenteil von dem geglaubt, was man immer gesagt hat.

Die Mormonen sind dabei anscheinend so weit gegangen, manche katholischen Päpste posthum zu Mormonen zu machen, zum Protest der katholischen Kirche. Wobei es da wenigstens eine mächtige Organisation gibt, die sich wehren kann, wenngleich ich auch da bezweifle daß das immer im Interesse der Betroffenen geschieht. Aber welcher Hahn kräht nach einem auf diese Weise in seiner Würde mißachteten verstorbenen Atheisten? Wäre das überhaupt heraus gekommen wenn Romney nicht Präsident werden wollte?

Immerhin hat Bill Maher in seiner Show das Unrecht der unfreiwilligen Taufe zeremoniell rückgängig gemacht und damit der Würde zurück auf die Beine geholfen.

Was, so frage ich mich, kann jemand zu seinen Lebzeiten tun um so etwas zu verhindern? Müßte man zusätzlich zu seinem "materiellen" Testament, in dem man regelt wer welchen Teil des Vermögens erbt, auch noch eine Art von "intellektuellem" Testament schreiben, wo drin steht welche Überzeugungen man vertreten hat und vertritt, und sich verbittet daß das posthum jemand so hin dreht wie es ihm paßt?

Schockierend auch, was für Arschlöcher die eigenen Familienmitglieder sein können, besonders wenn's um religiöse Fragen geht oder um eine Präsidentschaftskanditatur.

Ich stelle mir vor meine Tochter heiratet in eine Audiophilen-Familie, wo mit audiophilen Devotionalien ein Haufen Geld verdient wird, und nach meinem Tod wird dann überall verbreitet, ich sei in Wirklichkeit selber ein Audiophiler gewesen, und hätte auch geglaubt, daß da noch etwas sein müsse was man nicht in Meßwerten ausdrücken kann. Ein passendes Zitat von mir könnte man sicher problemlos finden, das man aus dem Zusammenhang reißen kann um das glaubhaft zu machen. Die Message wäre: "Seht her, alles in Ordnung mit Eurem Glauben, sogar der alte Motzknochen hat dazugehört".


Oder bin ich da zu paranoid oder zu empfindlich, was meint Ihr?


Nachtrag 25.2.12: Ich lese gerade, daß es nun auch Anne Frank erwischt hat, die bekannte jugendliche Tagebuchschreiberin, die im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Letzten Samstag wurde offenbar ihre posthume Taufe zur Aufnahme in die mormonische Kirche abgeschlossen.